Die öffentliche Debatte über Putin und seine Invasion kennt nur einen Zustand, den der Empörung. Diese Empörung auf Seiten der Politiker ist doppelt verständlich. Grund eins liegt in den skandalösen Verhältnissen selbst. Putin hat sich über das Völkerrecht erhoben.Er ist bereit, das Menschenrecht auf Unversehrtheit, auf Freiheit, auf Leben unter den Ketten seiner Panzerarmee zu zermalmen. Er stellt die Grenzen und damit die europäische Friedensordnung infrage.
Grund zwei der Empörung aber ist ein höchst fragwürdiger: Die politische Klasse – in Washington, in London, in Paris und auch in Berlin – will mit der mittlerweile hundertfach wiederholten Aussage von „Putins Krieg“ und der Klassifizierung des russischen Präsidenten als Mörder, als Irren, als Wahnsinnigen von ihrer Mitverantwortung beim Zustandekommen jener Verhältnisse ablenken, die zu diesem Krieg geführt haben. Es bleibt sein Krieg. Aber es sind auch ihre Verhältnisse.
Verstehen heißt nicht, Verständnis haben. Aber der Regierungspolitiker wird nicht für seine Entrüstungsbereitschaft bezahlt, sondern für seine Fähigkeit, widerstreitende Interessen als solche zu erkennen und für friedlichen Ausgleich zu sorgen. Er ist nicht der Vater, der um das Kind in den Flammen weint. Er ist der Feuerwehrmann auf der Leiter, der das Kind aus den Flammen rettet. Und der gute Politiker ist im besten Falle sogar der Experte für Brandschutz, der bereits im Vorfeld die nötigen Sicherungen einbaut — den Sprinkler und die Alarmanlage. Auf dass die Flammen keine Chance haben.
Genau an dieser vorausschauenden Russlandpolitik hat es gefehlt. Als Kronzeuge für das kollektive und fortgesetzte Nichtverstehen der russischen Seite durch das westliche Spitzenpersonal sei hier Henry Kissinger in den Zeugenstand gerufen. Er hatte schon nach der Besetzung der Krim durch die Putin-Armee gewarnt, die Komplexität des russisch-ukrainischen Konflikts zu unterschätzen und zu meinen, man könnte die Ukrainer ohne Konsequenzen für die Machtarchitektur in Europa in den westlichen Block eingemeinden.
Kissinger am 6. März 2014 in der „Washington Post“:„In der öffentlichen Diskussion über die Ukraine geht es nur um Konfrontation. Viel zu oft wird die ukrainische Frage als Showdown dargestellt: Ob sich die Ukraine dem Osten oder dem Westen anschließt. Doch wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren. “Er riet den führenden Politikern aller Seiten, sich wieder auf das Produzieren von Ergebnissen zu konzentrieren, anstatt sich in emotionalen Posen zu ergehen. Natürlich verteidigte Henry Kissinger das Recht der Ukrainer auf ihre eigene staatliche Souveränität. Aber er machte eine wichtige Einschränkung : «Die Ukraine sollte nicht der NATO beitreten».
Eine „institutionelle Feindschaft gegenüber Russland“ sei in Anerkennung der Geschichte und der geographischen Nähe unbedingt zu vermeiden. Käme es zu keiner Lösung zwischen der Ukraine und Russland, werde sich „das Abdriften in Richtung Konfrontation beschleunigen“.
Es kam genau so, wie Kissinger es vorhergesagt hatte.