Die am 24. Februar begonnene russische militärische Sonderoperation in der Ukraine skizziert die Grenzen zwischen den Bürgern Russlands – jenen, die für die begonnenen gewaltsame Variante sind oder zumindest sich ihr nicht widersetzen, und jenen, die offen dagegen sind. Vor dem Hintergrund des Bruchs mit dem Westen und der Verschärfung der russischen Gesetzgebung verlassen Unzufriedene bzw. Ablehner das Land. Dies tun sie, wobei sie mitunter lautstark ihre Antikriegsposition erklären, die unter den gegenwärtigen Bedingungen beinahe als ein Verrat ausgelegt wird. Sie sind gut zu vernehmen. Und die Reaktion anderer Bürger Russlands, darunter derjenigen, die über Macht verfügen, lässt nicht auf sich warten. Wie der Pressesekretär des Präsidenten, Dmitrij Peskow, betonte, „ist es für das wahre russische Volk nicht beschämend, ein russisches zu sein. Wer sich aber schämt, ist kein wahrer Russe, und die Wege zwischen ihm und Russland gehen da auseinander“.
So erklärte der exzentrische Staatsduma-Abgeordnete von der Kremlpartei „Einiges Russland“ Sultan Khamsajew, dass die Geschäftsleute und Vertreter des Show-Business, die Russland als „Panikmacher“ verlassen hätten, nicht zurückgelassen werden dürften. „Man muss allen die Rückreise ins Land untersagen, die abgehauen sind“, betonte der Parlamentarier auf kategorische Art und Weise.
Interessanter ist die Erklärung eines anderen, eines einflussreicheren Abgeordneten – des Vorsitzenden des Staatsduma-Ausschusses für Kontrolle, des ehemaligen Leiters der innenpolitischen Verwaltung der Administration des Präsidenten der Russischen Föderation, des alten Vertreters von „Einiges Russland“, Oleg Morosow. Er stellte sich die Frage: Warum sollte man nicht den Begriff „unerwünschte Person“ in unserer Gesetzgebung auch auf russische Bürger ausdehnen?
Nach seiner Meinung sei es nötig, „zeitweilig die Einreise für die Bürger ins Land zu blockieren, die es verlassen haben und sich im Ausland mit einer Tätigkeit befassen, die unserem Staat Schaden zufügt“. „Mögen Sie ihre Bürgerrechte auf eine Rente, Honorare, die Abstimmung bei Wahlen, das Kandidieren für die Moskauer Stadtduma usw. im entsprechenden Konsulat realisieren“, meint 68jährige Oleg Morosow, der sich über seine Abgeordneten-Diäten nicht beklagen wird. „Man muss sich daran gewöhnen, dass, da man die Grenzen in der Welt von jener Seite her schließt, sie folglich auch von dieser her nicht für alle offen sein werden“.
Interessant ist seine Präzisierung: „Dies ist kein Entzug der Staatsbürgerschaft. Und folglich verstößt dies nicht gegen die Verfassung“. Es geht um Teil 3 des Artikels 6 der Verfassung der Russischen Föderation: „Einem Bürger der Russischen Föderation kann nicht seine Staatsbürgerschaft aberkannt werden“. Somit hat der Volksvertreter seine Idee als eine gewisse Alternative zum Verfassungsverbot vorgetragen. Es gibt da aber eine zweifelhafte Klausel: Teil 2 des Artikels 27 des russischen Grundgesetzes verbietet ebenfalls direkt die von Morosow unterbreitete Initiative, indem er lautet: „Der Bürger der Russischen Föderation hat das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren“.
Die Sache ist jedoch die, dass die Verfassungsbestimmungen keinen unbedingten Charakter besitzen. In seiner Praxis hat das Verfassungsgericht bereits eine flexible, wenn nicht gar konjunkturell bedingte Logik demonstriert, indem es eine recht wesentliche Einschränkung des Wirkens anderer „unantastbarer“ Artikel des Grundgesetzes rechtfertigte. Mehr noch, die im vergangenen Jahr verabschiedeten Gesetze erlauben, Entscheidungen über eine Naturalisierung von Bürgern Russlands, die einige schwere Verbrechen begangen haben, aufzuheben. Es wird wohl kaum etwas daran hindern, diese Normen zu erweitern, wenn es dafür einen politischen Willen gibt. Technologisch ist dies gar ein einfacherer Weg als die Verhinderung einer Wiedereinreise von Bürgern Russlands ins Land. Obgleich die Rückkehr zur sowjetischen Praxis des Entzugs der Staatsbürgerschaft zweifellos zu negativen politischen Folgen führt.
Anders gesagt: Aus der Sicht der Verfassung können sich sowohl das Verbot für eine Einreise für einzelne Bürger Russlands als auch die Aberkennung der Staatsbürgerschaft durchaus zur gleichen Zeit auf dem Tisch befinden. Die Frage besteht nur darin, wie groß der Wunsch der Herrschenden ist, die ausgereisten nichtloyalen Mitbürger zu bestrafen. Dass solch eine Bestrafung eine schmerzhafte sein wird, muss unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht bezweifelt werden. Über solche Bürger Russlands ist man nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland nicht erfreut. Bürger der Russischen Föderation lässt man bereits in eine Reihe von Ländern nicht einreisen. Radikale Handlungen können eine neue Klasse von Obdachlosen schaffen, von „politischen Obdachlosen“. Wobei dies gar oft nicht einmal das Aktiv der Opposition ist, sondern einfach jene, die lediglich stilistische Meinungsverschiedenheiten mit den russischen Offiziellen haben, wenn man einmal Andrej Sinjawskij (war ein russischer Schriftsteller, Literaturhistoriker und Literaturkritiker und in der Sowjetunion politischer Häftling – Anmerkung der Redaktion) umformuliert.