Die von Russlands Präsident Wladimir Putin angeordnete Militäroperation in der Ukraine dauert inzwischen mehr als drei Wochen an. Auch der 22. Tag wurde von Meldungen über erbitterte Gefechte, Zerstörungen sowie Menschenopfern bestimmt. Das russische Verteidigungsministerium informierte über Erfolge in Gestalt von 46 zerstörten Militärobjekten der Ukraine und nunmehr 181 außer Gefecht gesetzten Flugzeugen des Gegners. Andere Zahlen aus dem Munde von Generalmajor Igor Konaschenkow lassen erahnen, in welchen Dimensionen die Realisierung des Moskauer Plans zur „Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ und der Anerkennung eines neutralen Status durch diese vorgenommen wird. Derweil erreichte laut aktuellen UNO-Angaben vom Donnerstag die Gesamtzahl der ukrainischen Flüchtlinge einen Stand von etwa 3,16 Millionen Menschen. Zehntausende haben Zuflucht in Deutschland gesucht und gefunden. Umso verständlicher, dass sich der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in einer dramatischen Videobotschaft an die Abgeordneten des Bundestages gewandt hat. Sein etwa 20minütiger bewegender Auftritt demonstrierte am Donnerstagvormittag, wie er selbst als Politiker gereift ist, und er löste viel Achtung und Beifall bei den deutschen Parlamentariern aus. „NG Deutschland“ veröffentlicht nachfolgend eine Übersetzung der Selenskij-Worte.
„Sehr geehrte Frau Vizepräsident Göring-Eckardt,
sehr geehrter Herr Scholz,
sehr geehrte Damen und Herren, Abgeordnete, Gäste und Journalisten!
Deutsches Volk!
Ich wende mich nach drei Wochen des großangelegten Einmarschs russischer Truppen in die Ukraine an Sie, nach acht Jahren Krieg im Osten meines Staates, im Donbass. Ich wende mich an Sie, während Russland unsere Städte bombardiert, wobei es alles zerstört, was es in der Ukraine gibt. Alles – Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen… Mit Raketen, Fliegerbomben, reaktiver Artillerie.
In den drei Wochen sind tausende Ukrainer ums Leben gekommen. Die Okkupanten haben 108 Kinder getötet. Mitten in Europa, bei uns, im Jahr 2022.
Ich wende mich an Sie nach zahlreichen Treffen, Gesprächen, Erklärungen und Bitten. Nach Schritten zur Unterstützung, von denen sich ein Teil verspätete. Nach den Sanktionen, die offenkundig wenige sind, um diesen Krieg zu stoppen. Und nach dem wir gesehen haben, wie viele Verbindungen Ihre Unternehmen mit Russland belassen. Mit einem Staat, der Sie und noch einige Staaten einfach ausnutzt, um den Krieg zu finanzieren.
In den drei Wochen des Krieges um unser Leben, um unsere Freiheit haben wir uns davon überzeugt, was wir früher fühlten. Und was Sie wahrscheinlich bisher nicht alle bemerken. Sie aber sind wie scheinbar erneut hinter einer Mauer. Ja, nicht der Berliner. Aber mitten in Europa. Zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und diese Mauer wird mit jeder Bombe, die auf unseren Boden, auf die Ukraine fällt, fester. Mit jeder Entscheidung, die nicht im Interesse des Friedens getroffen wird. Die von Ihnen getroffen wird, obgleich sie helfen kann.
Wann ist dies geschehen?
Sehr geehrte Politiker,
sehr geehrtes deutsches Volk!
Warum ist dies möglich? Als wir Ihnen sagten, dass die „Nord Stream“ (-Pipelines) eine Waffe und die Vorbereitung auf einen großen Krieg ist, haben wir als Antwort gehört, dass dies die Wirtschaft sei. Die Wirtschaft, die Wirtschaft. Dies war der Zement für die neue Mauer.
Als wir Sie fragten, was die Ukraine tun müsse, um ein Mitglied der NATIO zu werden, um in Sicherheit zu sein, um Sicherheitsgarantien zu erhalten, haben wir als Antwort vernommen: Solch eine Entscheidung sei vorerst und werde auch in der nächsten Zeit nicht auf dem Tisch liegen. Wie auch ein Sessel für uns an diesem Tisch. Wie Sie auch derzeit mit der Frage nach einem Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union keine Eile an den Tag legen. Ehrlich gesagt: Für einige ist dies Politik. Tatsächlich aber sind dies Steine. Steine für die neue Mauer.
Als wir um präventive Sanktionen baten, haben wir uns an Europa gewandt, haben wir uns an viele Länder gewandt. Wir haben uns an Sie gewandt. Um solche Sanktionen, damit der Aggressor verspürt, dass Sie eine Kraft sind. Wir haben ein Verschleppen gesehen. Wir haben Widerstand gespürt. Wir haben verstanden, dass Sie die Wirtschaft weiterhin bewahren wollen. Die Wirtschaft. Die Wirtschaft!
Und jetzt sehen die Handelsrouten zwischen Ihnen und dem Staat, der wieder einen brutalen Krieg nach Europa gebracht hat, Stacheldraht auf einer Mauer. Auf der neuen Mauer, die Europa trennt. Und Sie sehen nicht, was hinter dieser Mauer ist. Sie ist aber zwischen uns, zwischen den Menschen in Europa. Und deshalb fühlen sie nicht alle in vollem Maße das, was wir heute durchmachen.
Ich wende mich an Sie im Namen der Ukrainer, ich wende mich an Sie im Namen der Einwohner von Mariupol – den friedlichen Einwohnern der Stadt, die die russischen Truppen blockierten (seit 16 Tagen – Anmerkung der Redaktion) und dem Erdboden gleichmachen. Sie vernichten einfach alles, was es dort gibt. Alles und alle, die dort sind. Hunderttausende Menschen befinden sich rund um die Uhr unter Beschuss. Ohne Essen, rund um die Uhr ohne Wasser, ohne Strom, rund um die Uhr ohne Nachrichtenverbindungen. Wochen lang.
Die russischen Truppen machen keinen Unterschied, wo Zivilisten sind und wo Militärs, wo zivile Objekte sind und halten alles für eine Zielscheibe.
Das Theater, in dem hunderte Menschen Zuflucht und Schutz gesucht hatten und gestern gesprengt wurde, ein Entbindungsheim, ein Kinderkrankenhaus, Wohnviertel ohne irgendwelche Militärobjekte – sie zerstören alles. 24 Stunden am Tag. Und sie lassen nicht eine einzige humanitäre Frachtlieferung in unsere blockierte Stadt. Fünf Tage lang stellen die russischen Truppen den Beschuss nicht ein, speziell dafür, um keine Rettung für unsere Menschen zuzulassen.
Sie können dies alles sehen, wenn Sie sich über diese Mauer erheben. Wenn Sie sich erinnern, was für Sie die Berliner Luftbrücke bedeutete, die man einrichten konnte, weil der Himmel ein sicherer gewesen war. Aus der Luft hatte man Sie nicht getötet, wie derzeit in unserem Land, während wir nicht einmal eine Luftbrücke einrichten können! Während der Himmel nur russische Raketen und Fliegerbomben beschert!
Ich wende mich an Sie im Namen der Ukrainer höheren Alters. Im Namen von vielen derjenigen, die den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, die sich vor 80 Jahren vor der Okkupation gerettet hatten, die Babyn Jar überlebten.
Babyn Jar, das Präsident Steinmeier im vergangenen Jahr besuchte. Zum 80. Jahrestag der Tragödie. Und wo nunmehr russische Raketen einschlugen. Gerade an diesem Ort, wobei eine Familie getötet wurde, die nach Babyn Jar unterwegs war, zum dortigen Monument. Und erneut Tod bringend – 80 Jahre danach.
Ich wende mich an Sie von allen, die gehört haben, wie jedes Jahr Politiker erklären: „Nie wieder!“. Und die gesehen haben, dass diese Worte keinen Wert haben. Denn in Europa versucht man erneut, ein ganzes Volk zu vernichten. Alles zu vernichten, dank dem wir leben und wofür wir leben.
Ich wende mich an Sie im Namen unserer Militärs, jener, die unseren Staat und folglich auch die Werte verteidigen, von denen man oft überall in Europa spricht. Überall – auch bei Ihnen.
Von Freiheit und Gleichheit. Von der Möglichkeit, frei zu leben, sich keinen anderen Staat unterzuordnen, der fremden Boden für seinen „Lebensraum“ hält. Warum verteidigen sie all dies ohne Ihre Führung? Ohne Ihre Kraft? Warum erweisen sich die Staaten jenseits des Ozeans für uns als nähere als Sie?
Weil es da diese Mauer gibt. Eine Mauer, die irgendwer nicht bemerkt. An der wir aber aufprallen. Bisher kämpfen wir darum, um unser Volk zu bewahren.
Meine Damen und Herren,
deutsches Volk!
Ich bin allen dankbar, die uns unterstützen. Ich bin Ihnen dankbar. Den einfachen Deutschen, die aufrichtig den Ukrainern in Ihrem Land helfen. Den Journalisten, die ehrlich ihre Arbeit tun, indem sie alles Böse zeigen, das uns Russland gebracht hat. Ich bin dem deutschen Business dankbar, dass Moral und Menschlichkeit über die Buchhaltung, über die Wirtschaft gestellt haben. Die Wirtschaft. Die Wirtschaft! Und ich bin den Politikern dankbar, die immer noch versuchen… Die versuchen, diese Mauer einzureißen. Die zwischen dem Geld Russlands und dem Tod ukrainischer Kinder das Leben wählen. Die eine Verstärkung der Sanktionen gegen Russland unterstützen. So etwas, was Frieden garantieren kann. Frieden für die Ukraine, Frieden für Europa. Die nicht zweifeln: Sollte man Russland von SWIFT abkoppeln? Die wissen, dass ein Embargo für den Handel mit Russland nötig ist. Für einen Import von allem von dort, was diesen Krieg sponsort. Die wissen, dass die Ukraine in der Europäischen Union sein wird. Denn sie ist bereits in größerem Maße Europa als viele andere.
Ich bin allen dankbar, die über jeglichen Mauern stehen. Und die wissen, dass auf einem stärkeren auch mehr Verantwortung liegt, wenn es um eine Rettung von Menschen geht.
Für uns ist es schwer, ohne die Hilfe der Welt, ohne Ihre Hilfe standzuhalten. Es ist schwer, die Ukraine, Europa zu verteidigen. Ohne dem, was Sie tun können. Was Sie tun können, um sich nicht noch einmal auch nach diesem Krieg umzuschauen. Nach dem zerstörten Charkiw… Ein zweites Mal, 80 Jahre später. Nach den zerbombten Tschernigow, Sumy und Donbass. Denn was ist dann historische Verantwortung, die nach wie vor gegenüber dem ukrainischen Volk dafür, was vor 80 Jahren gewesen war, nicht wiedergutgemacht worden ist.
Auch jetzt, damit keine neue Mauer auftaucht, für die neue Mauer, die erneut ein Sühnen erfordert. Ich wende mich an Sie und erinnere daran, was notwendig ist. Das, ohne dem Europa nicht überleben und nicht seine Werte bewahren wird.
Der ehemalige Schauspieler und Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Ronald Reagan sagte einmal in Berlin: „Tear down this wall!” (deutsch: „Reißen Sie diese Mauer nieder!“, aus der Rede in West-Berlin am 12. Juni 1987 – Anmerkung der Redaktion). Und ich möchte jetzt Ihnen sagen. Kanzler Kohl, reißen Sie diese Mauer ein. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Sie verdienen. Und worauf Ihre Nachfahren stolz sein werden. Unterstützen Sie uns. Unterstützen Sie den Frieden. Unterstützen Sie jeden Ukrainer. Stoppen Sie den Krieg! Helfen Sie uns, ihn zu stoppen.
Ruhm der Ukraine!“