Das geistliche Oberhaupt der Polnischen orthodoxen Kirche hat sich an Patriarch Kirill mit der Bitte gewandt, die Stimme gegen die von Präsident Putin angeordnete militärische Sonderoperation in der Ukraine zu erheben. Der Metropolit in Vilnius spricht offen von einer politischen Differenz mit dem Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche und deutet die Proklamierung einer kirchlichen Unabhängigkeit an. Der estnische „Nachbar“ ist zwar vorsichtiger, wählte aber auch die europäische Solidarität gegen die Russische Föderation aus. Der Patriarch selbst bezeichnete in seiner Sonntagspredigt vom 20. März erneut die Russen und die Ukrainer als ein Volk, das die Feinde zu „geschwächten“ machen wollen.
In der erwähnten Predigt in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale gestand das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche ein: „Unsere Kirche macht eine überaus schwere Periode durch, zumindest in der neuesten Geschichte, in der viele Kräfte versuchen, den einheitlichen Körper unserer Kirche zu zerreißen“. Und ein weiteres Mal sprach er von gemeinsamen Werten, „ungeachtet der politischen Grenzen, die auf dem Körper der historischen Rus verlaufen“.
Als schmerzhafteste hat sich für Patriarch Kirill wahrscheinlich der Appell des Metropoliten von Wilna und Litauen, Innokentij (Wassiljew), erwiesen. Er war auf der Internetseite der Diözese von Wilna und Litauen veröffentlicht worden und enthält eine Vielzahl von Beanstandungen. Der Metropolit trat offen gegen die am 24. Februar begonnene Militäroperation Russlands auf und – das Wichtigste – machte dem Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche einen Vorwurf. „Wie ihr gewiss bemerkt habt, vertreten Patriarch Kyrill und ich unterschiedliche politische Überzeugungen und Einschätzungen der aktuellen Ereignisse“, gestand der 75jährige Innokentij ein, wobei er betonte, dass die politischen Äußerungen des Oberhauptes der Russischen orthodoxen Kirche „dessen persönliche Meinung“ seien. „Wir in Litauen sind nicht damit einverstanden“, fügte der Oberhirte hinzu. Er deutete sogar an, dass in der entstandenen Situation die Rede von autokephalen Bestrebungen sein könne: „Wir orthodoxe Christen in Litauen, die heute die Möglichkeit haben, unabhängig ihre innerkirchlichen Angelegenheiten zu lösen, werden auch weiterhin nach einer noch größeren kirchlichen Unabhängigkeit streben, wobei wir glauben, dass der Herr solche eine zur gegebenen Zeit geben wird“. Dies ist bereits ein Antrag darauf, was man in Moskau derweil als Spaltung bezeichnet. (Siehe auch: https://www.domradio.de/artikel/kritik-kyrill-aus-der-orthodoxen-kirche-litauen).
In der Situation einer Spaltung befindet sich bereits die orthodoxe Gemeinde Estlands, da hier neben dem Episkopat der Russischen orthodoxen Kirche eine Struktur unter der Obhut des Patriarchen von Konstantinopel wirkt. Dennoch hat Metropolit Jewgenij (Reschetnikow) seine Unterschrift zusammen mit dem „Konkurrenten“ von Konstantinopel unter einen gemeinsamen Appell der religiösen Organisationen des Landes gesetzt, der die jüngste antirussische Resolution der UN-Vollversammlung unterstützt. Freilich, auf der Internetseite der Estnischen orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats ist dieser Text nicht aufzufinden. Dafür gibt es den jüngsten Appell von Patriarch Kirill.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel erklang das Geständnis des Erzbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland (ELKR), Dietrich Brauer, über seine Flucht nach Deutschland (siehe auch: https://ngdeutschland.de/39jahriger-erzbischof-will-auch-aus-deutschland-die-lutheraner-russlands-seelsorgerisch-betreuen/). Auf der Internetseite einer der Landeskirchen der Evangelischen Kirche Deutschlands ist ein Interview mit Brauer veröffentlicht worden. Der protestantische Erzbischof charakterisiert unter anderem das Verhalten des Oberhauptes der Russischen orthodoxen Kirche: „Wir hörten seitens der Kirche seit Jahren ein Narrativ über Christenverfolgung und Völkermord in der Ukraine. Deshalb ist sein Handeln eine logische Konsequenz. Auch die Predigten, die wir hören, sind konsequent. Aber viele Menschen haben doch von ihm etwas erwartet“.
Seine Erwartungen äußerte beispielsweise der Metropolit von Warschau und Ganz Polen Sawwa (Gryzunjak). Seinen Appell publizierten polnische Zeitungen. Er bittet angeblich den Patriarchen, seine Stimme zu erheben, damit die Kampfhandlungen aufhören. „Da wir die Macht Ihrer Autorität kennen, glauben wir, dass Ihre Stimme gehört werden wird“, zitieren die Zeitungen den Metropoliten (siehe auch: https://www.domradio.de/artikel/polens-orthodoxe-kirche-appelliert-kyrill-i-wegen-krieg). Freilich, auf der Internetseite der Polnischen orthodoxen Kirche, die eine unabhängige von der Russischen orthodoxen Kirche, aber vom Geist her ihr eine verbündete ist, sind solche Worte nicht zu finden. Die Medien berufen sich auf einen Facebook-Eintrag des Vertreters der ukrainischen Organisationen in Polen, Grzegorz Kuprianovicz.
Aus dem Interview von Dietrich Brauer kann man gleichfalls erfahren, dass russische Beamte angeblich die religiösen Spitzenvertreter des Landes davon zu überzeugen versuchen, offen für eine Unterstützung der militärischen Sonderoperation in der Ukraine einzutreten. Wahrscheinlich soll diesen Prozess eine solidarische Erklärung des Interreligiösen Rates von Russland bekrönen. Jedoch erklingen derartige Auftritte vorerst fragmentarisch, von einzelnen religiösen Gemeinschaften. So erklangen die bestimmtesten Worte zur Unterstützung der am 24. Februar begonnenen Sonderoperation aus dem Nordkaukasus, wobei sich die Teilnehmer solcher Treffen Invektive an die Adresse von Mufti Rawil Gainutdin erlaubten, der bisher keine offenen Erklärungen abgegeben hat. Sowohl die interreligiöse Zusammenarbeit in Russland als auch die Einheit des Moskauer Patriarchats machen ganz bestimmt eine schwierige Zeit durch. Die berüchtigten geistigen Klammern haben Rissen bekommen.