Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Eine schmerzhafte Evolution


Die „Operation zur Demilitarisierung“ der Ukraine hat zu einer beispiellosen Zuspitzung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland geführt und sie auf den ersten Blick von der Situation in anderen Regionen einschließlich der arabischen Welt abgelenkt. Auch kann der Eindruck entstehen, dass die arabischen Länder ihre Losgelöstheit von den entscheidenden Ereignissen und den zweitrangigen Charakter bei der Ausgestaltung einer neuen Weltordnung verspürt haben, obgleich einige von ihnen – wenn auch auf ihre Weise – angestrebt hatten, daran teilzunehmen.

Andererseits hat ihre Rolle unmittelbar nach Beginn der russischen Sonderoperation und nach den über Russland hereingebrochenen Sanktionen zugenommen. Der Westen ist an einer Involvierung der Araber in die Sanktionsmaßnahmen und an einer Schwächung der Positionen Moskaus in der arabischen Welt interessiert. Für Russland ist es aber äußerst wichtig, mit ihnen stabile Kontakte – politische und wirtschaftliche – und seine Autorität in der arabischen Welt und weiter – im moslemischen Osten – zu bewahren.

Die Konfrontation um den ukrainischen Konflikt vergrößert für die arabischen Länder die Möglichkeiten für ein Manövrieren, verschafft eine Gelegenheit, den Akzent auf den Mehr-Vektoren-Charakter und die Eigenständigkeit ihrer Außenpolitik hervorzuheben.

Solch eine Eigenständigkeit offenbart sich eher in Bezug auf den Westen, in erster Linie hinsichtlich der Vereinigten Staaten, die bestrebt sind, die Araber auf den antirussischen Kurs zu bringen, und in einigen Situationen ihnen Zugeständnisse machen können. Eine eindeutig antirussische Position wird ihnen wohl kaum bedeutsame Dividende bescheren. Und mit der Zeit wird es zu einer noch größeren Abhängigkeit von Amerika und Europa führen.

Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass nach irgendeinem (bisher ist unklar was für einer) Zeitabschnitt das Interesse der USA an der arabischen (moslemischen) Welt nachlassen kann, da die entscheidende Bedeutung in der globalen Politik die innere Konsolidierung des Westens haben wird. Und die arabische Welt wird marginalisiert.

In diesem Kontext ist die Haltung der arabischen Staaten im Verlauf der am 2. März 2022 erfolgten Abstimmung in der UN-Vollversammlung zu einer Resolution interessant, die die russische Operation in der Ukraine verurteilt. Russland verurteilten 141 Staaten, fünf Länder dagegen, 36 enthielten sich der Stimme.

Von den arabischen Ländern war gegen eine Verurteilung Russlands nur Syrien aufgetreten, dessen Staatsoberhaupt Baschar al-Assad freilich vollkommen von der militärischen Unterstützung Moskaus abhängt. Syrien hat im Übrigen auch die Unabhängigkeit der Lugansker und der Donezker Volksrepubliken anerkannt.

In der Liste der Länder, die sich einer Abstimmung enthalten hatten, sind Algerien, der Irak, der Sudan und der Südsudan. Eine flexible Haltung hatten die Vereinigten Arabischen Emirate eingenommen, die die Resolution in der Vollversammlung unterstützt, dafür aber bei der Abstimmung zu einem analogen Text im UN-Sicherheitsrat geschwiegen hatten. Hervorgehoben sei, dass sich die arabischen Länder, aber auch die Liga der Arabischen Staaten für eine diplomatische Lösung des Konflikts ausgesprochen haben.

In einzelnen Fällen ist die zurückhaltende Position einiger arabischer Staaten unter anderem mit ihrem Unmut über den unzureichenden Charakter oder das Ausbleiben einer Unterstützung der USA bei ihren eigenen Konflikten zu erklären. So verärgert Marokko die Herangehensweise der westlichen Länder an seine Konfrontation mit Algerien aufgrund der Westsahara. Die Position des Westens wird in Rabat als eine algerienfreundliche angesehen. Die VAE sind durch Washington aufgrund der übermäßig laschen Haltung gegenüber den Hussiten, die in Jemen einen Krieg führen und die, wie man in Abu Dhabi meint, die Situation in der Region des Persischen Golfs destabilisieren, gekränkt. Joseph Biden hat nach seinem Machtantritt sogar die Hussiten aus dem Verzeichnis der terroristischen Organisationen ausgeschlossen. Dafür hatte Russland bei einer Abstimmung am 28. Februar in der UNO ein Embargo für Waffenlieferungen an die Hussiten unterstützt.

Einige Tage nach Beginn der von Präsident Putin befohlenen russischen Operation in der Ukraine beschloss Washington, die wichtigsten Ölexporteure, vor allem Saudi-Arabien und die VAE, zu den Sanktionen hinzuziehen. Beide Staaten unterhalten enge Beziehungen mit den USA, obgleich sie zur gleichen Zeit oft ihre Eigenständigkeit demonstrieren.

Bis zum heutigen Tag haben die Versuche Bidens, diese Länder an einer „kohlenwasserstoff-Isolierung“ Russlands zu beteiligen, keinen vollwertigen Erfolg erreicht. Der saudische Thronfolger, Kronprinz Mohammed bin Salman al-Saud, und der Kronprinz von Abu Dhabi Muhammad bin Zayid bin Sultan Al Nahyan hatten sogar ein Gespräch mit dem US-Präsidenten zu diesem Thema abgelehnt.

Kurze Zeit vor Beginn der Operation in der Ukraine begannen die VAE, nachdem sie im UN-Sicherheitsrat einen zeitweiligen Sitz bekommen hatten, Änderungen an ihrer Außenpolitik auf internationaler Ebene vorzunehmen. Dieser Golfstaat ist bestrebt, mit den Kontakten zwischen den traditionellen Verbündeten und den neu erworbenen Partnerschaftsbeziehungen zu jonglieren.

Hinsichtlich der Situation in der Ukraine hat sich keine Einmütigkeit der VAE und des Westens bei der Verurteilung der russischen Aktion in der Ukraine herausgebildet. Die Vereinigten Arabischen Emirate rufen wie auch Saudi-Arabien zu einer friedlichen Lösung des Konflikts auf und wollen nicht, die Beziehungen mit Russland verderben. In diesem Konflikt nehmen sie eine Position ein, die sich durch eine gleiche Entfernung zu allen Konfliktparteien auszeichnet. Bezeichnend ist, dass bei einem Telefongespräch zwischen Wladimir Putin und dem Kronprinzen von Abu Dhabi nicht nur die ukrainische Krise, sondern auch die Zusammenarbeit im Energiebereich erörtert wurden. In solch einem Modus agiert auch Saudi-Arabien. Die französische Zeitung „Le Monde“ bezeichnete ihre Position als eine „delikate Neutralität“.

Saudi-Arabien hat vor kurzem bekanntgegeben, dass es überhaupt die Investitionen in die amerikanische Wirtschaft verringern könne. „Mir ist es egal, was Biden darüber denkt“, erklärte der saudische Thronfolger Mohammed bin Salman al-Saud. „Wir haben kein Recht, Ihnen Vorlesungen in Amerika zu halten“, fügte er hinzu. „Jedoch haben auch Sie kein Recht, uns Annotationen vorzulesen“.

Eine vollwertige Unterbrechung von Lieferungen russischer Kohlenwasserstoffe an die westlichen Märkte ist ohne eine Unterstützung der Länder des Persischen Golfs schwierig, wenn überhaupt möglich.

Russland nimmt nach den VAE und Saudi-Arabien weltweit den dritten Platz hinsichtlich des Exports von Erdöl ein. Seit 2017 ist der größte Importeur russischen Erdöls China (im vergangenen Jahr – 70,1 Millionen Tonnen für 4,9 Milliarden Dollar). Hinter ihm folgen die Niederlande (37,4 Millionen Tonnen für 17,3 Milliarden Dollar). Auf dem dritten Platz ist Deutschland (19,2 Millionen Tonnen für 9,3 Milliarden Dollar). Polen kaufte 11,2 Millionen Tonnen für 5,4 Milliarden Dollar, Italien – 8,9 Millionen Tonnen für 4,2 Milliarden Dollar, Finnland – 6,3 Millionen Tonnen für drei Milliarden Dollar und die Slowakei – 5,3 Millionen Tonnen für 2,5 Milliarden Dollar. Eine schnelle Umorientierung auf andere Ölexporteure, besonders unter Berücksichtigung der Position der Länder, die zu OPEC+ gehören, ist wohl kaum möglich. Und wenn sie beginnt, so wird sie sich als recht schmerzhafte erweisen. Wichtig ist zu unterstreichen, dass die Organisationen der Ölexporteure beabsichtigen, die bereits unterzeichneten Abkommen über die Ölförderung unverändert zu lassen, während die USA auf deren Erhöhung bestehen.

Angemerkt sei, dass auch für Russland der Ölexport nach Europa außerordentlich wichtig ist. Auf die Länder der Europäischen Union entfielen 47 Prozent der Lieferungen (im Jahr 2012 – 67 Prozent).

Was die Gaslieferungen angeht, so ist hier die Rolle der arabischen Länder weniger bedeutsam. An dritter Stelle liegt (nach Russland und Norwegen) Algerien. Im vergangenen Jahr hat Algerien über seine Pipelines und den LNG-Terminal 34 Milliarden Kubikmeter Erdgas an die Europäer verkauft – rund acht Prozent vom Gesamtumfang auf dem Markt. Es ist in der Lage, auch mehr zu liefern. Doch Algerien ist nicht imstande, die russischen Gaslieferungen für den europäischen Markt, die 260 Milliarden Kubikmeter erreichten, zu ersetzen. Das Land kann an die EU zusätzlich sieben Milliarden Kubikmeter verkaufen. Prinzipiell wird dies jedoch die Abhängigkeit Europas von den russischen Lieferungen nicht verändern. Sie verändern wird auch nicht der in der Zukunft wahrscheinliche Gasimport aus Qatar und umso mehr aus Ägypten.

Die Herangehensweise der arabischen Welt an den Ukraine-Konflikt wird durch die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland inklusive der Zusammenarbeit im militär-technischen Bereich bestimmt. So befand sich Algerien neben China und Indien in der Top 3 der Käufer russischer Waffen. Im Zeitraum von 2000 bis einschließlich 2018 belief sich die Gesamtsumme der durch das Land mit Moskau abgeschlossenen Verträge auf 13,5 Milliarden Dollar. Ein spürbarer Partner bleibt Russland für Ägypten. Im Jahr 2014 machte die Gesamtsumme der militär-technischen Verträge 3,5 Milliarden Dollar aus. Die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet wird fortgesetzt. Und Ägypten schickt sich nicht an, von ihr Abstand zu nehmen. Stabil ist solche eine Zusammenarbeit Russlands mit dem Sudan und mit dem Irak. Wenn auch nicht in signifikanten Dimensionen, so wird sie doch mit den Ländern des Persischen Golfs fortgesetzt. Die arabischen Länder sind nicht daran interessiert, auf die Kontakte mit Russland in diesem Bereich zu verzichten, da eine derartige Zusammenarbeit – wie bereits betont wurde – ein Beleg für ihre politische Eigenständigkeit ist.

Eine andere wichtige Frage sind die Lieferungen von russischem und ukrainischem Getreide in die arabischen Länder. Betont sei, dass der gesamte russisch-ukrainische Export im internationalen Maßstab rund 30 Prozent ausmacht.

In Ägypten entfielen etwa 90 Prozent der Getreidelieferungen auf Russland. Kairo, das sich den Sanktionen gegen Moskau angeschlossen hat, verzichtet nun auf die russischen Lieferungen und hat begonnen, alternative Lieferanten zu suchen. Derweil steigen aber die Preise für Getreide. Russland hat die erzwungene Entscheidung getroffen, den Export von Getreide und einigen anderen Produkten herunterzufahren. All dies können nach Meinung einiger Experten im Nahen Osten und in Nordafrika eine Lebensmittelkrise auslösen.

Wird sich aber unter den neuen Bedingungen das Verhältnis zu einer militärischen Präsenz Russlands im Nahen Osten verändern? Bisher sind keine drastischen Veränderungen in der Position der arabischen Länder zu beobachten.

Zweifellos wird Russland alles Mögliche tun, damit der Ukraine-Konflikt nicht seine Möglichkeiten für eine Präsenz in der Region verringert. Dies ist eine Sache des Prinzips für Moskau, besonders wenn man berücksichtigt, dass Baschar al-Assad, wie hervorgehoben wurde, der einzige arabische Staatschef ist, der auf der Seite Russlands aufgetreten ist. Werden aber dafür die Kräfte und Mittel ausreichen, besonders wenn sich die russische Operation in der Ukraine in die Länge zieht?

In den russisch-syrischen Beziehungen hat sich ein unerwartetes Sujet ergeben. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte die Möglichkeit einer Entsendung von 16.000 syrischen Freiwilligen in die Ukraine eingeräumt. Wieweit so etwas real ist, ist eine Frage der Zeit. Überdies existiert die Meinung, dass viele „Freiwillige“ die sich ergebende Möglichkeit ausnutzen würden, um von der Ukraine aus nach Europa zu gelangen.

Wenn aber eine Entscheidung über eine Beteiligung von Syriern an dem militärischen Konflikt gefällt wird, was der Autor des vorliegenden Beitrags bezweifelt, kann er in einer gewissen Weise (wenn auch in einem unbedeutenden Maße) einen religiösen Akzent erlangen.

Zumal der religiöse Faktor bereits durch einige religiös-politische Kräfte zum Einsatz gebracht worden ist und ausgenutzt wird. So hat der Mufti der Geistlichen Verwaltung der Ukraine „Umma“ Said Ismagilow in seinem Appell vom 7. März an die russischen Moslems sie aufgerufen, eine „Befreiungsbewegung zu beginnen, wobei er an eine bekannte Aussage erinnerte: „Russland ist ein Völkergefängnis“. Der Aufruf des Muftis ist von keinem erhört worden. Und eine Involvierung ausländischer Moslems in die ukrainischen Geschehnisse wird die Lösung des Konflikts nicht fördern.

Dem sei die recht diplomatische Haltung der „Taliban“-Bewegung (die in Russland eine verbotene ist) zu dem Konflikt in der Ukraine hinzugefügt. Ihre Führung plädiert für seine friedliche Lösung. Und der moderat pragmatische Flügel der Taliban ist nach wie vor an einer Bewahrung der sich anbahnenden Beziehungen mit Russland interessiert und weiß sie sehr zu schätzen.

Wie sich die Beziehungen zwischen Russland und der arabischen Welt gestalten werden, ist sehr schwer zu sagen. Überdies ist die arabische Welt keine Gemeinschaft mit einheitlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen. Die Beziehungen zwischen Russland und den arabischen Staaten werden sich wie auch früher auf bilateraler Grundlage gestalten und entwickeln.

Eine Isolierung Russlands im arabischen Raum wird nicht stattfinden. Für die arabische Welt wird es riskant sein, bei all ihren inneren Differenzen ohne den russischen Faktor, der in Opposition zu den USA steht, zu bleiben, da sich in diesem Fall eine Gefahr für ihre Eigenständig- und Selbständigkeit ergibt. Russland wird weiterhin einen Einfluss auf die innerarabischen – die nationalen und regionalen – Konflikte ausüben. Und die Araber werden auch nicht auf die militär-technische Zusammenarbeit verzichten.

Der Westen vergibt einigen arabischen Ländern die Zusammenarbeit mit Moskau, besonders in jenen Fällen, wenn er keine Alternative offerieren kann (beispielsweise Getreidelieferungen). Hunger-Unruhen, mit denen einige Experten Angst und Schrecken auslösen wollen und die zur Wiederholung des arabischen Frühlings führen können, brauchen weder Europa noch Amerika.

Die Beziehungen Russlands mit den arabischen Ländern werden bleiben, obgleich sie sich auch entwickeln werden, mitunter schmerzhaft, worauf Moskau