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Über Auswanderungsstimmungen und die sich veränderte Realität


Das kremlnahe Allrussische Zentrum für öffentliche Meinungsforschung (VTsIOM) hat entsprechend den Ergebnissen einer Umfrage, die Auswanderungsstimmungen galt, mitgeteilt, dass die Eskalierung des Konflikts von Russland mit dem Westen „entgegen den Erwartungen“ ganz und gar nicht den Wunsch der Bürger verstärkt hätte, das Land zu verlassen. Im Gegenteil: Das Emigrationspotenzial sei, informieren die Soziologen, bis zum Stand von 2018 gesunken, obgleich es die letzten drei Jahre zugenommen hätte.

Die Umfrage wurde am 16. März durchgeführt, das heißt: drei Wochen nach Beginn der von Präsident Wladimir Putin befohlenen sogenannten Sonderoperation in der Ukraine. Viele jener, die, wenn man sich mit den Worten des Pressesekretärs des russischen Staatsoberhauptes, Dmitrij Peskow, ausdrückt, „Angst bekommen haben und nichts begriffen“, hatten es bis zu dieser Zeit geschafft, das Land zu verlassen oder solch einen Wunsch zu signalisieren. Dabei antworteten auf die Frage der VTsIOM-Mitarbeiter nach dem Wunsch, für ständig ins Ausland zu gehen, lediglich zehn Prozent mit JA. Nur zwölf Prozent hätten unter Bekannten, Freunden und Verwandten potenzielle Emigranten.

Aus den Antworten auf die Frage „Was meinen Sie, warum gehen heute Menschen aus Russland für ständig ins Ausland?“ ist es überhaupt nicht möglich zu begreifen. Dass sich in den letzten Monaten im Land etwas Außerordentliches ereignete, dass sich die Beziehungen mit irgendwelchen Ländern veränderten und dass sich neue Anlässe für ein Ausreisen ergeben haben. Man konnte bis zu zwei Antworten geben. Und die populärsten waren: „zum Geldverdienen, für eine Verbesserung der materiellen Lage“ (29 Prozent), „auf der Suche nach einem leichteren Leben“ (24 Prozent), „für die Zukunft der Kinder“ (17 Prozent), „aufgrund eines höheren Niveaus der sozialen Garantien“ (13 Prozent) und „um sich die Welt anzusehen“ (zehn Prozent). Vom Wunsch, mehr politische Freiheiten zu haben, sprachen sieben Prozent. Die Antwort „ich habe Angst“ gaben nur ganze zwei Prozent der Befragten.

Hinter welcher der populären Antworten eine Reflexion zum Thema des Geschehens im Land und um dieses herum steht, ist unklar. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass es nicht hinter einer einzigen von ihnen eine solche gibt. Man kann annehmen, dass die vom VTsIOM befragten Menschen in ihrer Mehrheit nicht die Motive jener begreifen, die beschlossen haben, während der Sonderoperation auszureisen.

Ein vages Echo von der aktuellen Situation ist dennoch in den Antworten auf die Frage auszumachen, unter welchen Bedingungen die Menschen nach Russland zurückkehren könnten. 15 Prozent sagten, dass dies erfolge, wenn „sich die Situation im Land einrenkt“, „eine Gewissheit hinsichtlich des morgigen Tages auftaucht“. Zwölf Prozent sind der Auffassung, dass „Verfolgungen“ und eine Russophobie diejenigen zurückzukehren veranlassen werde, die ausgereist sind. Fünf Prozent nannten als eine Bedingung für die Rückkehr der Bürger Russlands das Ende der Sonderoperation.

Anders gesagt: Die VTsIOM-Umfrage fixiert doch eine veränderte Realität. Aber die kremlnahen Soziologen präparieren sie mit einer unzureichenden Sorgfalt. Unter anderem vernehmen wir nicht die Stimmen jener, die in den letzten Wochen ausgereist sind. Wenn diese Menschen ihre Motive hätten nennen können, wäre das Bild der Antworten wahrscheinlich ein anderes gewesen, selbst wenn das VTsIOM die Worte der Befragten auf seine Art hätte klassifizieren und „sichere“ bzw. „ungefährliche“ Formulierungen suchen müssen.

Wichtig ist zu begreifen, dass die Absicht auszureichen, sowohl jetzt als auch in den vorangegangenen Jahren bedeutete, dass der Mensch seine Möglichkeiten und Perspektiven bewertet. Wichtig war, nicht bloß zu wollen, sondern auch emigrieren zu können. Ein Ins-Ausland-gehen ist auch heutzutage eher ein Privileg, denn eine reale Entscheidung. Die Telefonbefrage des VTsIOM wurde drei Wochen nach Beginn des Ukraine-Konflikts durchgeführt. In dieser Zeit haben viele das Emigrationsprivileg ausgenutzt (wenn auch oft erzwungenermaßen). Sie hat die Befragung nicht erfasst. Erfasst hat sie jene, die wirklich keinen Wunsch hatten, das Land zu verlassen, oder keine Möglichkeit bei Bestehen eines Wunsches hatten (und haben). Und das von den staatlichen Medien aufgebaute Bild von einem russophoben Westen erweitert überhaupt nicht diese Möglichkeiten. Von daher – was durchaus wahrscheinlich ist – sowohl der generelle Ton der Antworten als auch die Stimmung sowie das Setzen darauf, dass die Ausgereisten zurückkehren werden.

In einer gewissen Weise hilft allerdings die Umfrage des VTsIOM wirklich, das Auswanderungspotenzial der Bürger Russlands zu beurteilen. Es bleibt ein geringes, nicht weil den Bürgern alles recht ist oder sie der gegenwärtige Konflikt überhaupt nicht beunruhigt. Sie halten simpel die Umstände im Land fest, dass sie nirgendwohin ausreisen können. Und gerade deshalb schicken sie sich auch nicht an, selbst in der schwierigen Zeit irgendwohin auszureisen.