In der russischen Elite sind in den letzten Tagen Überlegungen zum Thema des Patriotismus modern geworden. Hochrangige Beamte teilen Gedanken mit, wie man die Heimat richtig zu lieben habe, wer den Kriterien eines Patrioten entspreche und wer nicht.
So hält laut einer Erklärung des Pressesekretärs des russischen Präsidenten, Dmitrij Peskow, dieser den TV-Moderatoren Iwan Urgant für einen „großen Patrioten“, den man zuvor aufgrund eines zeitweiligen Verlassens des Landes kritisiert hatte. Auf diese Peskow-Worte reagierte das Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, der sagte, dass Putins Pressesekretär „irgendeine unreife“ Skala von Prioritäten habe. „Ich habe es nicht einmal gewusst. Es stellt sich aber heraus, um ein Patriot seines Landes zu werden, muss man die Handlungen Russlands kritisieren, ins Ausland gehen, und dies lautstark und pathetisch, indem man Rummel um seine Person macht, und dann, wenn der Grad der politischen Konfrontation zurückgeht, wieder zurückkehren, so als wäre nichts gewesen“, sagte er. Als Antwort unterbreitete Peskow den Vorschlag, keine Wettbewerbe dazu zu veranstalten, wer mehr ein Patriot sei. „Umso mehr, da wir alle um unser Land herum und um unseren Präsidenten vereint sein müssen“, unterstrich er. Nach Aussagen des offiziellen Kremlsprechers sei Patriotismus die Liebe zur Heimat und die Bereitschaft, sich auf Opfer einzulassen, wenn dies erforderlich sei.
Der Diskussion haben sich auch andere VIPs angeschlossen. „Patriotismus ist keine Form deiner Gedanken, dies sind deine Handlungen. Und noch eins: Diejenigen, die die Heimat lieben, sind sehr verschiedene Menschen. Ein Verräter hat immer ein Gesicht, das Gesicht eines Verräters. Das Wichtigste ist, rechtzeitig dieses Gesicht auszumachen“, äußerte sich in seinem charakteristischen und mitunter arrogant wirkenden Stil der Stellvertreter des Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates, Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew (und in Personalunion Chef der Kremlpartei „Einiges Russland“ – Anmerkung der Redaktion). Markant ist dies gesagt worden, aber unkonkret. Konkretheit hatte der Vorsitzende der Staatsduma (des Unterhauses des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) Wjatscheslaw Wolodin („Einiges Russland“) nicht beiseitegelassen, indem er den tschetschenischen Abgeordneten Adam Delimchanow („Einiges Russland“) als Beispiel anführte, der sich zusammen mit Angehörigen der russischen Garde aus Tschetschenien seit Beginn der von Präsident Wladimir Putin befohlenen militärischen Sonderoperation im Donbass befindet. „Heute ist ein Moment der Wahrheit für uns alle. Liebe zur Heimat und ihr Verrat sind keine abstrakten Begriffe, sondern konkrete Taten“, unterstrich pathetisch den im Großen und Ganzen klischeehaften Gedanken.
Die beschriebene Diskussion hinterlässt einen merkwürdigen Eindruck. Im Grunde genommen sind sich all ihre Teilnehmer darin einig, dass die Umstände eine Konsolidierung um den Kurs der Herrschenden in Russland verlangen würden. Es war direkt zu vernehmen – um das Land und den Präsidenten. Das Staatsoberhaupt ist augenscheinlich der hauptsächliche Adressat all dieser Erklärungen. Gerade für ihn sind sie bestimmt. Die Elite wetteifert, wer ihm gegenüber die meiste Loyalität an den Tag legt. Und wer mit solch einer Fragestellung nicht einverstanden ist, der ist, stellt sich heraus, ein Abtrünniger und Verräter. Oder zumindest eine verdächtige Person.
Solch eine Auslegung engt den Begriff „Patriotismus“ außerordentlich stark ein. Ja, und ist dies denn überhaupt Patriotismus? Die Staatsbeamten sagen zurecht, dass Patriotismus keine abstrakten Begriffe sei, sondern konkrete Taten. Aber diese Taten müssen sich bei weitem nicht unbedingt in einer Solidarisierung mit dem Präsidenten, in einer direkten Unterstützung der militärischen Sonderoperation in der Ukraine und dem Abstempeln von Feinden offenbaren. Jener Teil des russischen Business, der beispielsweise unter den gegenwärtigen schwierigen Wirtschaftsbedingungen Ressourcen für eine Aufstockung der Löhne und Gehälter für die Beschäftigten seiner Unternehmen ausfindig macht, das Personal bewahrt und neues gewinnt sowie den Versuch unternimmt, das Produktionssortiment und die Preise zu halten, demonstriert er mehr oder weniger wahren Patriotismus als Urgant oder Delimchanow?
Eine unbedingte Eigenschaft eines Patrioten ist die Sorge um eine Verbesserung des Lebens im Land und um eine Erhöhung des Lebensniveaus für alle Mitbürger. Wenn das Lebensniveau infolge des verfolgten Kurses sinkt, ist es schwer, solch einen Kurs als einen patriotischen und diejenigen, die ihn unterstützen, als Patrioten zu bezeichnen. Andernfalls wird es schwer, logisch den Unterschied zwischen Feinden Russlands, die einen Rückgang des Lebensniveaus der Bürger Russlands wünschen, und den selbstproklamierten Patrioten, deren Kurs zu solch einem Niedergang führt, zu erklären. Man urteilt nicht anhand von Deklarationen, sondern entsprechend dem Ergebnis, nicht entsprechend von Worten, sondern anhand von Taten und Ergebnissen. Alles Übrige gehört zum Genre der Demagogie in Bezug auf das Patriotismus-Thema.
- S. der Redaktion „NG Deutschland“
Mitunter drängt sich der Gedanke auf, dass man in Russland die oben erwähnte Demagogie bis zur Perfektion zu treiben sucht. Und gar sehr erfolgreich. Am Freitag veröffentlichte Umfrageergebnisse kremlnaher Meinungsforschungsinstitute untermauern diesen Eindruck. 81,6 Prozent der vom Allrussischen Meinungsforschungszentrum VTsIOM befragten Bürger Russlands vertrauen dem russischen Präsidenten, während in den ersten Tagen der militärischen Sonderoperation dieser Wert noch bei 73 Prozent lag. Und 78,9 Prozent billigen die Tätigkeit des Kremlchefs, während es Ende Februar nur 70,4 Prozent waren. Die Stiftung für öffentliche Meinung (FOM) ermittelte derweil, dass 61 Prozent der Befragten Anfang April die Ukraine-Operation Russlands als wichtigste und bedeutsamste Ereignisse bewerteten. Dies ist nur ein Prozent mehr als eine Woche zuvor und ein Prozent weniger als vor zwei Wochen die FOM-Soziologen vermeldeten.