Nach dem drastischen Anstieg Ende Februar verlangsamt sich derzeit die Inflation in Russland, wenn man die wöchentlichen Zahlen vergleicht. Auf das Jahr hochgerechnet beschleunigt sie sich aber vorerst und nähert sich bereits der 17-Prozent-Marke. Die Frage, ob es der Wirtschaft der Russischen Föderation in diesem Jahr gelingen werde, im Bereich der prognostizierten Inflationsrate von 20 Prozent zu bleiben, weist immer noch keine eindeutige Antwort auf. Und dies verursacht eine inflationsbedingte Unbestimmtheit für das Treffen weiterer Entscheidungen. Dabei ist, einer Expertenanalyse der Einkäufe nach zu urteilen, der Hektik jetzt nicht bloß die Puste ausgegangen. Die Verbraucher haben scheinbar bereits die Gürtel enger geschnallt. Zu einer anderen spürbaren Besonderheit der letzten Wochen ist die Loslösung der Preise vom Dollarkurs geworden. Ungeachtet dessen, dass dank der Maßnahmen der Finanzbehörden der Russischen Föderation der Dollar gegenwärtig fällt, steigen die Preise dennoch weiterhin an. Und hinsichtlich einer Reihe von Kategorien recht signifikant.
Ein Vergleich der Wochenzahlen für die Inflationsrate zeigt, dass nach dem wirklich heftigen Ansteigen Ende Februar sich danach, beginnend ab März die Zunahme der Preise im Land jede Woche tatsächlich verlangsamt hat.
Während im Zeitraum vom 26. Februar bis 4. März die Verbraucherpreise gleich um mehr als zwei Prozent angestiegen sind (wobei die Verteuerung eine Woche zuvor noch weniger als 0,5 Prozent ausgemacht hatte), so erreichte nunmehr, in der Woche vom 26. April bis einschließlich 1. April die Gesamtzunahme der Verbraucherpreise 0,99 Prozent, folgt aus einer Übersicht des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung.
Auf das Jahr hochgerechnet (nimmt man die Daten aus dem von Maxim Reschetnikow geleiteten Wirtschaftsministerium mit Stand vom 1. April) beschleunigt sich dagegen die Inflation und nähert sich dicht der 17-Prozent-Marke. Eine Konsens-Prognose von Experten, die die Moskauer Nachrichtenagentur „Interfax“ befragt hatte, wies Anfang April aus: Russland werde wohl eine Jahresinflation von 22,7 Prozent erleben. Zu einer spürbaren Besonderheit der letzten Wochen wurde auch die Loslösung der Dynamik der Preise von der Dynamik des Dollarkurses in Bezug auf den Rubel. Wie Börsenberichte ausweisen, hat der Dollar angefangen, beginnend ab dem 8. März, rasant einzubrechen. Und im gesamten Monat März wurde er um mehr als 20 Prozent billiger.
„Die Preise hängen nicht direkt vom Kurs ab, andere Faktoren wirken ebenfalls“, kommentierte Denis Domastschenko, Leiter des Labors „Untersuchungen des Geld- und Kreditsystems und Analyse der Finanzmärkte“ an der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität. „Beispielsweise die Störungen in der Logistik, die Schwierigkeiten bei den Einkäufen im Ausland sowie die künstlichen Beschränkungen auf den ausländischen Märkten für die Käufer aus der Russischen Föderation“.
„Die sich im Verlauf der letzten Monate des Jahres 2021 und des Beginns des Jahres 2022 akkumulierten Inflationserwartungen haben unter der Schockeinwirkung (die Verstärkung der Sanktionen im Februar des laufenden Jahres) zu einem durchschlagenden Inflationssprung geführt. Man kann auch nicht ausschließen, dass das Business die Situation für den Erhalt von Supereinnahmen ausnutzt“, betonte dabei der wissenschaftliche Oberassistent des Labors für Finanzstudien des Gaidar-Instituts Sergej Subow.
Außerdem ist in den letzten zwei Wochen ein drastischer Übergang der russischen Verbraucher zu einem Sparregime auszumachen, wenn man ihre Aktivität mit der aus dem Vorjahr im gleichen Zeitraum vergleicht. Diese Schlussfolgerung kann man aus den Daten der Forschungsholding „Romir“ über die wöchentlichen nominellen Ausgaben der Bürger Russlands ziehen. Nach der hektischen März-Aufregung verringern die Verbraucher bereits die zweite Woche in Folge die Wareneinkäufe, stellt man einen Vergleich mit Daten aus dem Vorjahr für den gleichen Zeitraum an.
Es präzisiert: Nominell nehmen die Ausgaben im Vergleich zum Vorjahr zu. So machte die Zunahme in der letzten und vorletzten Woche des März jeweils etwa vier Prozent aus (im Vergleich zu den gleichen Wochen des Vorjahres). In realen Zahlen aber und unter Berücksichtigung der Jahresinflation sind die Ausgaben der Bevölkerung in eben diesen ausgewiesenen Wochen tatsächlich um etwa zehn Prozent zurückgegangen. Nach den hektischen Einkäufen zu Monatsbeginn haben die Menschen faktisch begonnen, weniger Waren als im Vorjahr einzukaufen.
Dabei demonstrierten einige Waren, urteilt man anhand der Daten des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung und von Rosstat, in den letzten Wochen einen wahrhaft wahnsinnigen Anstieg. Im März verteuerten sich die Zwiebeln um etwa 50 Prozent, Weißkohl um 39,8 Prozent. Im Vergleichsmonat des Vorjahres lagen diese Zahlen im Bereich von sechs bis sieben Prozent. Möhren verschonten auch nicht die Geldbörsen der Russen, denn sie verteuerten sich im letzten Monat um 29,5 Prozent, wobei die Dynamik der Preisentwicklung von Woche zu Woche differierte. Kartoffeln sind in der letzten Märzwoche um fünf Prozent teurer geworden, Geflügelfleisch – um mehr als zwei Prozent. Rekordhalter ist aber der Zucker. Im letzten Monat legten die Preise für ihn um durchschnittlich 51 Prozent zu.
Beeindruckender wird dieser traurige Vergleich, nimmt man sich die Zahlen des Vorjahres vor. Denen zufolge ergibt sich die folgende Top 5: Weißkohl um fast 300 Prozent, Zucker um fast 73 Prozent, Zwiebeln beinahe um 60 Prozent, Möhren um 52 Prozent und Buchweizen um ca. 43 Prozent.
Vorerst bleibt die Situation hinsichtlich der Inflation eine unbestimmte, wenn nicht gar besorgniserregende. Unter anderem bleibt vorerst die Frage offen, ob es der russischen Wirtschaft gelingen wird, in diesem Jahr im Bereich einer Inflationsrate von 20 Prozent zu bleiben. Entgegen der oben erwähnten Konsens-Prognose liegt die offizielle Prognose der Zentralbank bei 20 Prozent, wobei man sich auf die Ergebnisse einer anderen makroökonomischen Befragung von Wirtschaftsexperten stützte. Überdies ist die genannte Zahl auch nur ein Mittelwert, da die angegebenen Voraussagen für die russische Inflationsrate zwischen 9,8 und 40 Prozent schwankten.
„Bei einer Stabilisierung der makroökonomischen Situation könnte man kühn eine Inflationsrate von nicht mehr als 20 Prozent und sogar deren geringe Reduzierung prognostizieren“, sagte Subow. „Aber gegenwärtig ist Russlands Wirtschaft sehr empfindlich gegenüber nichtökonomischen Einflussfaktoren. Und es scheint, dass sie noch nicht vollends ausgeschöpft worden sind“.
Den Erläuterungen des Experten nach zu urteilen, sind auch neue heftige Schwankungen nicht ganz auszuschließen. „Die saisonbedingten Faktoren können einen hypertrophierten Charakter aufweisen, was sich wie eine überzogene Nachfrage offenbaren kann. Vieles wird von der Politik des Business abhängen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Business periodisch die Androhung eines Defizits anwenden wird. Und dies wird sich auf die Preisdynamik auswirken“, vermutet Subow. Obgleich angemerkt sei, dass nicht alles vom Appetit einiger Marktakteure abhängen wird. Es gibt objektive Faktoren, die die Preise bisher in die Höhe treiben.
„Ich nehme an, dass der prognostizierte Wert von 20 Prozent zu optimistisch ist. Die panische Nachfrage, die Probleme mit der Logistik und die geopolitischen Spannungen fördern keine Regulierung der Situation“, fährt Alexej Mostowstschikow, ein Mitglied des Generalrates der Unternehmervereinigung „Geschäftsrussland“, fort. „Ich nehme an, dass der Jahreswert für die Inflation ein zweistelliger und möglicherweise im Bereich von 30 Prozent liegen wird“.
Doch auch optimistische Prognosen finden ihre Anhänger. Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland die Jahresinflation im Jahr 2022 im Bereich von 20 Prozent halten kann, sei eine wesentliche, meint der Experte Michail Selzer vom Moskauer Investitionsunternehmen „BKS. Welt der Investitionen“. Er lenkt das Augenmerk darauf, dass rund 17 Prozent gerade der Wert für Jahresinflationsrate sei, der Vergleichswert für die Angaben zum gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Wenn man aber die ausschließlich ab Beginn dieses Jahres akkumulierte Inflation nimmt, so beträgt sie laut Angaben des staatlichen Statistikamtes Rosstat etwa zehn Prozent. Das Land hat sowohl noch die Zeit als auch die Möglichkeit, es zu schaffen, eine Verringerung des Inflationsdrucks zu erreichen.
Derweil haben sich auch die Einschätzungen zur Neigung der Bürger Russlands zu noch einem übermäßigen Ansteigen der Aktivitäten im Falle neuer äußerer Schocks als unbestimmte erwiesen. Nach Meinung von Sergej Subow sei es verfrüht zu sagen, dass die Bürger vollkommen die Ressourcen ausgeschöpft hätten. „Die Bevölkerung hat keinen geringen Anteil von Mitteln auf Sparkonten. Und diese Mittel können zu jeglichem Zeitpunkt für Einkäufe genutzt werden“. Ein Teil der Experten erinnert aber daran, dass der Bevölkerung immer weniger freies Geld bleibe. Die Menschen würden durch Kredite belastet sein. Und derzeit sei für viele ein drängendes Problem, wie die aufgenommenen Kredite unter Bedingungen getilgt werden sollen, unter denen selbst irgendwelche Restmengen bereits für Vorratskäufe ausgegeben worden seien.