Außerordentliche Vorfälle an Bahnanlagen in der Art dessen, was im Verwaltungsgebiet Belgorod registriert wurde, können sich auch in anderen russischen Regionen ereignen. Sechs der sieben Subjekte der Russischen Föderation, die an die Ukraine grenzen, haben bereits die sogenannte gelbe Warnstufe für eine terroristische Gefahr verhängt. Dabei plant man in Russland, in den russischen Wehrkreiskommandos die Offiziersdienststellen wiederherzustellen.
Im Verwaltungskreis Schebekino des Verwaltungsgebietes Belgorod ist ein Teil des Gleisbettes einer wichtigen Bahnlinie zerstört worden, teilte Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow mit. Obgleich keine Präzisierungen dahingehend folgten, was für Schäden konkret verursacht wurden, erlaubte die Mitteilung darüber, dass vor Ort eine Untersuchungsgruppe arbeitet, die Vermutung zu formulieren, dass der Zwischenfall ein Diversionsakt gewesen ist. Zumal zuvor bereits Erklärungen über die Gefahr von Terrorakten in den Regionen mit der sogenannten gelben Warnstufe laut geworden waren.
Am Vorabend waren in sozialen Netzwerken und auf einer Reihe von Nachrichtenportalen die Informationen verbreitet worden, dass der ukrainische Präsident Wladimir Seleskij angeblich einen Erlass über die Ausdehnung der Kampfhandlungen auf das Territorium der Russischen Föderation unterzeichnet habe. Offizielle Bestätigungen gibt es dafür nicht. Und mehrere ukrainische Medien bezeichneten den Clip, in dem vor angeblichen bewaffneten Männern der Text des „Erlasses“ verlesen werde, als einen inszenierten. Russische Kommentatoren vermuten, dass das Video eventuell ein „Element einer PR-Kampagne“ von in ihm zu sehenden Vertretern einer extremistischen Organisation oder eine „informationsseitige und psychologische Operation“ der Streitkräfte der Ukraine sei. Der einstige Abgeordnete der Werchowna Rada der Ukraine und Ex-Chef des sogenannten Parlaments von Neurussland („Nowo-Rossia“) Oleg Zarjow ist der Auffassung, dass die Sprengung am Gleisbett einer Bahnlinie unweit von Belgorod damit zusammenhänge, dass „die ukrainischen Streitkräfte für alle Fälle mögliche Wege für den Transport von Technik und Waffen (der Streitkräfte der Russischen Föderation – „NG“) aus dem Verwaltungsgebiet Belgorod in das Gebiet Charkiw unterbrechen“. Zuvor hatte der moskaufreundliche Zarjow aufgerufen, prophylaktische Luft- und Raketenschläge gegen Bahnstrecken in der Westukraine zu führen, um über diese die militärische Versorgung aus den angrenzenden NATO-Ländern zu unterbinden.
„Die von einigen angesehenen (und nunmehr diskreditierten – Anmerkung der Redaktion) Experten für den 12. April angekündigte großangelegte Offensive russischer Truppen im Donbass ist bisher nicht zu beobachten“, kommentierte für die „NG“ der Militärexperte Nikolaj Schulgin die Situation, die sich derzeit im Bereich der Durchführung der von Präsident Putin befohlenen militärischen Sonderoperation abzeichnet. „Dabei gibt es Meldungen über Versuche der ukrainischen Streitkräfte, Gegenangriffe gegen Stellungen der Streitkräfte Russlands auf dem Charkiwer Kampfschauplatz und gen Isjum in Richtung Braschkowka und Suchaja Kamenka vorzunehmen. Abgeschlossen werden die Kampfhandlungen in Mariupol“.
Nach seiner Meinung belege die Veröffentlichung des Erlasses Nr. 230/2022 durch Wladimir Selenskij, durch den eine Demobilisierung der Wehrpflichtigen, die den Grundwehrdienst abgeleistet haben, untersagt wird, dass Kiew in der langfristigen Perspektive darauf eingestellt sei, die Kampfhandlungen fortzusetzen. Schulgin lenkte das Augenmerk auf die Tatsache, dass im Unterschied zur Ukraine in Russland alle Soldaten des Grundwehrdienstes, die zwölf Monate gedient haben, in die Reserve versetzt werden würden. „Selenskij ist aber scheinbar bereit, die Soldaten des Grundwehrdienstes für die Lösung von Gefechtsaufgaben gegen die russische Armee einzusetzen. Dies erlaubt ihm das Gesetz über die Mobilmachung. Selenskij verlängert den Kriegszustand im Land und erwartet weitere gewichtige Militärhilfe von den USA und anderen NATO-Ländern in Form von Panzern, Flugzeugen und Raketen mit einer großen Reichweite. Und je mehr Zeit ins Land gehen wird und die nicht sehr intensiv verlaufenden Operationen gegen die ukrainischen Streitkräfte erfolgen werden, umso größer wird das Militärpotenzial der Ukraine“, meint der Experte.
In den sozialen Netzwerken werden Angaben der britischen Aufklärung erörtert, die eine Aktivierung der Kampfhandlungen im Donbass in den nächsten zwei, drei Wochen voraussagt. Der Militärexperte und Generalleutnant im Ruhestand Jurij Netkatschjow erklärte gegenüber der „NG“, dass Russland versuche, seine Gruppierung zu verstärken. „Unter solchen Schritten kann man die Auffüllung der Truppen mit neuen qualifizierten Kontingenten an freiwilligen Vertragsmilitärs ausmachen, die die Wehrkreiskommandos derzeit in einer Reihe von Regionen Russlands gewinnen. Dabei werden, wie sich herausstellt, auch die Wehrkreiskommandos selbst verstärkt, in denen in baldiger Zukunft erneut Offiziersdienststellen vorgesehen werden“.
Diese Schlussfolgerungen werden durch offizielle Erklärungen des russischen Verteidigungsministeriums bestätigt. Wie Vizeverteidigungsminister Nikolaj Pankow mitteilte, habe Verteidigungsminister Sergej Schoigu entschieden, „militärische Dienststellungen in den Militärkommissariaten, Truppenteilen sowie Einrichtungen und Organisationen von Russlands Verteidigungsministerium einzuführen“, für die „Militärangehörige benannt werden, die im Verlauf der Sonderoperation in der Ukraine Verwundungen erlitten“. Aus der Erklärung Pankows ergibt sich, dass diese Personen gegenwärtig in Moskau eine Ausbildung im Rehabilitierungs- und Ausbildungszentrum Nr. 2 absolvieren, das auf der Basis des 3. Zentralen klinischen Wischnewskij-Militärhospitals gebildet wurde und wo die Patienten parallel zur Rehabilitierung und Versorgung mit Prothesen eine Ausbildung entsprechend neuen militärischen Fachrichtungen durchlaufen. Wie Pankow versicherte, könnten die die sich im Zentrum Nr. 2 zur Behandlung befindlichen Militärs, wenn sie es wünschen, den Militärdienst fortsetzen. Der stellvertretende Minister fügte hinzu, dass eine „individuelle Herangehensweise an die Bestimmung des weiteren dienstlichen Einsatzes und besondere Modalitäten für die Absolvierung des Militärdienstes, die Bereitstellung sozialer Vergünstigungen und Garantien sowie eine Versorgung mit Wohnraum“ vorgesehen seien.
Betont sei, dass die Dienststellungen/Funktionen in den Militärkommissariaten und anderen Einrichtungen des Verteidigungsministeriums vorrangig Offiziersdienststellen sind. Wie man mit den Soldaten und Unteroffizieren umgehen wird, die ernsthafte Verwundungen erlitten, ist bisher nicht erklärt worden. Es bestehen die Befürchtungen, dass viele von ihnen – wie dies auch nach den Tschetschenien-Kampagnen war – auf der Grundlage von Schlussfolgerungen militärmedizinischer Kommissionen aus dem Militärdienst entlassen werden. Dabei besitzen die jungen, in den Ruhestand versetzten Militärs gemäß dem Gesetz über den Status eines Militärangehörigen, die keine 20 Dienstjahre vorweisen können, eingeschränkte Rechte und Möglichkeiten für eine Fortsetzung der Heilbehandlung in Gesundheitseinrichtungen der Streitkräfte der Russischen Föderation. Die Vorschläge der Militärgewerkschaften, die vor etwa vier Jahren angeregt hatten, Änderungen an der Gesetzgebung vorzunehmen, um dieses Problem zu lösen, sind von den Offiziellen in keiner Weise unterstützt worden.