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Werden russische Schachspieler an internationalen Wettbewerben teilnehmen können?


Nach Abschluss des FIDE Grand Prix 2022 (eine Serie von Schachturnieren unter Beteiligung der Weltspitze, die zwischen dem 3. Februar und 4. April 2022 in Berlin und Belgrad stattfand – Anmerkung der Redaktion) hat in der Schachwelt eine lange Pause begonnen, die durch das Wirken von zwei miteinander verbundenen Faktoren bedingt wurde. Nach Beginn der von Präsident Wladimir Putin am 24. Februar befohlenen Sonderoperation der Streitkräfte Russlands in der Ukraine sind mehrere Turniere abgesagt worden, darunter auch die Mannschaftsweltmeisterschaft, die im April in Israel stattfinden sollte. In diesem Kontext sei betont, dass in den letzten Jahren der Zeitplan für die wichtigsten Turniere gut abgestimmt gewesen war, wobei erlaubt wurde, einerseits die größten internationalen Wettbewerbe zeitlich zu trennen und andererseits mehr oder weniger erhebliche Pausen zu vermeiden. Dabei haben sich nun die Mannschaftsturniere in der anfälligsten Lage erwiesen, da an ihnen Auswahlmannschaften oder Klubs, die de facto unter den nationalen Flaggen antreten, teilnehmen.

Es sei daran erinnert, dass buchstäblich am nächsten Tag nach Beginn der Ereignisse in der Ukraine das kurzfristig einberufene Führungsgremium der FIDE eine Entscheidung traf, die die Sonderoperation verurteilte, aber auch den russischen Schachspielern untersagte, bei internationalen Wettbewerben unter ihrer nationalen Flagge anzutreten. Dabei wurden ihnen aber das Recht eingeräumt, individuell unter der neutralen Flagge der FIDE zu spielen. Wie wir vor mehr als anderthalb Monaten betonten, war dies in der entstandenen Situation eine gut ausgewogene Kompromissentscheidung, die die Hoffnung beließ, die Einheit der Schachwelt zu bewahren und die Abhaltung der meisten entscheidenden Turniere fortzusetzen. Unter anderem gelang es ungeachtet der plötzlich aufgetretenen Probleme, die Abhaltung des Grand Prix zu beenden, womit der Zyklus für die Ermittlung der Teilnehmer für das WM-Kandidaten-Turnier abgeschlossen wurde.

Die von der FIDE verabschiedeten Kompromissentscheidungen sind jedoch sofort von zweiten Seiten aus kritisiert worden. Eine Richtung kann man sozusagen mit dem Namen von Sergej Karjakin in Verbindung bringen, der entschieden die international umstrittene russische Sonderoperation unterstützte (und im Zusammenhang damit durch die Ethik-Kommission der FIDE für ein halbes Jahr disqualifiziert wurde). Und die andere, die unvergleichlich lautstärker und mehrstimmig ist – mit der Aktivität einer Reihe gesellschaftlicher Strukturen der Ukraine. Gemäß dieser Position sollten die russischen Schachspieler (selbst unter der Flagge der FIDE) überhaupt nicht an internationalen Turnieren teilnehmen, was unter anderem in einem offenen Brief einer großen Gruppe ukrainischer Großmeister ihren Ausdruck fand. Dieser war auf Initiative der Schachföderation des ukrainischen Verwaltungsgebietes Lwow vorbereitet worden. Und das erstrangige Ziel dieser Aktion bestand in der Nichtzulassung nicht eines einzigen russischen Spielers zur European Individual Chess Championship (Schach-Einzel-Europameisterschaft), die vom 27. März bis einschließlich 7. April im slowenischen Terme Catez stattfand.

Es sei angemerkt, dass ungeachtet ihres spektakulären Namens die europäischen Foren nie als bedeutsame Wettbewerbe angesehen wurden. Und ihr Hauptziel bestand in der Ermittlung einer großen Gruppe von Gewinnern für den Weltcup, der bei all seinem unvergleichlich höheren Status lediglich die Abschlussetappe für die Ermittlung der Teilnehmer des WM-Kandidatenturniers war. Daneben sind die Meisterschaften der „Alten Welt“ (Europas) aus materieller Sicht keine so attraktiven für die Teilnehmer, was unter den Bedingungen der faktischen Schließung der meisten europäischen Länder die Anreise der russischen Spieler nach Slowenien aus logistischer Sicht zu einer außerordentlich komplizierten Angelegenheit und folglich auch zu einer offenkundig Verluste bringenden Sache für die meisten von ihnen machte. Allerdings wurde das beinahe komplette Ausbleiben von Aufmerksamkeit seitens der Medien für das Championat nicht dadurch verursacht, sondern durch das Zusammentreffen der Termine für seine Abhaltung mit den entscheidenden Auseinandersetzungen der dritten Etappe des FIDE Grand Prix.

Jedoch war dennoch erhöhte Aufmerksamkeit für das Ereignis (wenn auch nicht sofort) ausgelöst worden, obgleich auch durch etwas ganz Anderes. Die Sache ist die, dass unter den Unterzeichnern des „Appells der ukrainischen Großmeister“ keine (mit Ausnahme von Natalia Shukowa) der berühmten ukrainischen Mädchen, die mehrfach Einzel- und Mannschaftsturniere höchsten Ranges inkl. Weltolympiaden und Weltmeisterschaften gewonnen hatten, gewesen ist. Bisher aber hat Sergej Karjakin keine Aufmerksamkeit auf diesen Umstand gelenkt, dessen Name auf die ukrainische Schach-Community wie ein rotes Tuch auf einen Bullen wirkt. Weder der Brief an sich noch die Unterschriften, die unter ihm stehen, sind in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses geraten.

Nicht wir haben darüber zu urteilen, wodurch die Nichtteilnahme an dieser Aktion gerade durch die berühmten Musytschuk-Schwestern ausgelöst wurde. Wahrscheinlich ist das Motto der FIDE „Wir sind eine Familie“ für sie keine leeren Worte. Daher wollten Anna und Maria sehr ungern an das „Eingemachte“ gehen, indem sie eine klare Grenze zwischen sich und den langjährigen Schachfreunden ziehen, deren einzige Schuld im Vorhandensein eines russischen Passes bestand. Und aus unserer „großen Entfernung“ blickend, muss man zumindest solch eine Position achten.

Derweil haben sich für die FIDE an sich im Zusammenhang mit der sich veränderten geopolitischen Situation viele zusätzliche Probleme ergeben. Obgleich die Rolle in der heutigen Schachwelt auch nicht mit jener vergleichbar ist, die einst die UdSSR gespielt hatte, ist sie dennoch aber immer noch eine sehr große. Daher würde eine vollständige Isolierung unseres Landes, zu der einzelne ausländische Kollegen aufrufen, dem internationalen Schachsport einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen. Außerdem, und dies illustrierten ausgezeichnet beispielsweise die Werbebanner, die die Wände der Spielräume bei den Grand-Prix-Etappen zierten, hatte die FIDE (jetzt bereits nicht mehr!) mehrere sehr ernsthafte russische Sponsoren. Und einen Ersatz für sie zu finden, ist ganz und gar nicht einfach. All dies verleiht der offiziell begonnenen Kampagne zur Wahl des FIDE-Präsidenten ein besonderes Kolorit. Einziger Kandidat für dieses Amt ist derzeit lediglich der amtierende Vorsitzende der Internationalen Schachföderation, der Vertreter Russlands Arkadij Dworkowitsch. (Freilich ist er selbst in Russland unter scharfe Kritik geraten. Als FIDE-Chef hatte er die gegen Russland gerichteten Entscheidungen des Weltverbands im Zusammenhang mit der Ukraine-Sonderoperation Moskaus nicht verhindert. – Anmerkung der Redaktion)

Im Kontext des Geschehens muss die Frage nach einer Teilnahme russischer Großmeister (wenn auch unter der Flagge der FIDE) an den einen oder anderen internationalen Wettbewerben beunruhigen. Es ist schwer zu sagen, was gerade das Haupthindernis auf dem Weg dorthin ist. Obgleich sich für die „Normalsterblichen“ selbst die Transport- und verwaltungstechnischen Probleme, die scheinbar in keiner Weise mit den schachpolitischen Umständen zusammenhängen, durchaus als ausreichend erweisen können. Schaut man sich aber die Teilnehmerlisten der vergangenen und anstehenden Turniere an, ertappst du dich unwillkürlich bei dem Gedanken, dass die meisten Organisatoren einfach keine zusätzlichen Kopfschmerzen im Zusammenhang mit einer Teilnahme russischer Spiele bekommen wollen. Schließlich haben selbst die Organisatoren des Superturniers im norwegischen Stavanger, das am 31. Mai beginnt, beschlossen, ohne sie auszukommen.