Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Über die Idee einer legalisierten Zensur in Russland


In Russland dauern das Markieren und Labeln des Medienbereichs an. In der vergangenen Woche sind beispielsweise die Politologin Jekaterina Schulman, aber auch der Journalist und Blogger Jurij Dudj ins Verzeichnis der sogenannten ausländischen Agenten aufgenommen worden. Das Etikett eines „ausländischen Agenten“ hatte bereits lange vor Beginn der am 24. Februar von Präsident Wladimir Putin befohlenen Sonderoperation in der Ukraine aufgehört, für öffentliche Personen und Organisationen einfach eine Unannehmlichkeit, ein Zeichen für eine aus der Sicht des Ansehens fehlende Attraktivität für einzelne Werbekunden oder Investoren zu sein. Der Weg von einem „Agenten“ zu einem „Verräter“ und Extremisten und folglich bis zur Einleitung von Strafverfahren hat sich als ein sehr schneller erwiesen. Nunmehr wird dieser Prozess scheinbar nur beschleunigt.

Zur gleichen Zeit hat in den russischen Medien die Zahl derjenigen zugenommen, die unter die einen oder anderen westlichen Sanktionen geraten sind. Und augenscheinlich werden sie entweder ihre wahren Gedanken und Gefühle schon nicht mehr verhehlen oder ihre Ansichten haben sich unter dem Einfluss der Umstände radikalisiert. Beispielsweise hat die Chefredakteurin des russischen staatlichen Auslandsfernsehens „Russia Today“ Maragarita Simnonjan bei einem Auftritt in einer Sendung von Wladimir Solowjow auf dem staatlichen TV-Kanal „Rossia 1“ Ende letzter Woche erklärt, dass „die Zeit eines Umbruchs“ gekommen sei. „Es ist überhaupt an der Zeit, auf alles, was sich bei uns im Land vollzieht, anders zu sehen, angefangen bei dem Satz „Eine Zensur ist in der Verfassung verboten worden““, sagte sie völlig unverblümt.

Entsprechend dem Gedankengang von Simonjan „kann ein großer Staat ohne eine Kontrolle der Informationen nicht existieren“. Sie erinnerte an China als ein Beispiel eines wirtschaftlich entwickelten Landes, in dem sowohl die politischen als auch die informationsseitigen Freiheiten eingeschränkt seien. Die 42jährige Chefredakteurin von „Russia Today“ ist sich dessen sicher, dass im Westen, der gezwungen hätte, einzelne Bestimmungen in die Verfassung der Russischen Föderation aufzunehmen, die Zensur „üppig Blüten treibt“. In der Geschichte Russlands aber seien, wie Simonjan meint, die zwei Perioden, als es fast keine Zensur gegeben hätte, mit dem Zusammenbruch des Landes zu Ende gegangen.

Die Verfassungsreform wurde vor zwei Jahren begonnen. Und jetzt wird es scheinbar kein Ende der Vorschläge geben, das Grundgesetz noch einmal zu revidieren, es noch strenger zu machen. Die sogenannte Sonderoperation erlebt bereits ihren 55. Tag und ist noch nicht abgeschlossen worden, aber einzelne, den Herrschenden nahestehende Journalisten schlagen vom Wesen her vor, das besondere Regime für das Zusammenwirken von Staat und Medien zu einem ständigen zu machen, welches in der Gesetzgebung verankert wird und über den zeitlichen Rahmen der Kampfhandlungen hinausreicht. Sie schlagen schon heute vor, einen Sieg über das Andersdenken zu feiern.

Der Versuch, durch eine Legitimierung der Zensur einen Zusammenbruch des Landes zu vermeiden, wird in Wirklichkeit zu einer gesetzgeberischen Verankerung der Spaltung in der Gesellschaft, der Polarisierung führen. Im Großen und Ganzen wird selbst das Etikett eines „ausländischen Agenten“ zu einem überflüssigen. Der Staat erhält einfach das Recht, jegliche Mitteilungen unabhängig davon, wer ihr Autor ist, von wem er eine Finanzierung erhält und was für Ansichten er vertritt, zu blockieren. Jeglichen, der einen Standpunkt artikulieren möchte, der ein alternativer zum staatlichen ist, nötigt man vom Wesen her zu einer Emigration. Und da ist es schon nicht mehr wichtig, womit er sich beschäftigt und was für einen Nutzen er für die Gesellschaft bringt.

Die Enthusiasten einer gesetzlich verankerten Polarisierung denken im Rahmen einer sehr kurzen Perspektive. Ja, die aktuelle Konjunktur würde bei einer Verschärfung der Gesetzgebung ihre Tätigkeit legalisieren und das Wirken jener einschränken oder verbieten, die anders denken. Wenn man aber weiter in die Ferne schaut, kann man ausmachen, dass derartige Normen jegliche evolutionäre Entwicklung des Staates einschränken. Er lebt sozusagen stets im Regime einer Sonderoperation. Ihm bleibt sehr wenig Raum für eine innere normale und schmerzfreie Demokratisierung, für die dennoch aber weiterhin ein Bedarf in der einen oder anderen Gestalt besteht.

Die in der Verfassung verankerten Instrumente für eine Unterdrückung und Bestrafung können sich in den Händen jeder beliebigen herrschenden Elite erweisen. Selbst bei einer radikalen Einengung des politischen Feldes bleiben die Herrschenden im Innern widersprüchliche. In ihren Machtkorridoren gibt es Interessengruppen. Ihr Kampf hört nicht auf. Sie können sich in der einen oder anderen Weise einander ablösen. Und denjenigen, die heute aufrufen, die Kollegen zu zensieren, garantiert keiner, dass ihre Meinung nicht morgen unter ein Verbot geraten kann. Wenn dies wirklich eine Meinung ist und nicht ein geschicktes Anpassen an die Konjunktur.