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Was bedeuten die Worte von Papst Franziskus über den „Ministranten Putins“ und das „Gebell der NATO an den Toren Russlands“


Die italienische Zeitung „Cоrriere della Sera“ veröffentlichte am Dienstag ein Interview mit Papst Franziskus, in dem politische Akzente recht überraschend gesetzt worden sind. Und einige Formulierungen überraschen durch ihre Schärfe. Allerdings ist der besorgte Ton des Pontifex verständlich. Es geht um das Geschehen in der Ukraine. Der Papst gesteht ein, dass er pessimistisch eingestellt sei. Er berichtete, dass er bei seiner jüngsten Begegnung mit Ungarns Premierminister Viktor Orbán die Meinung kundgetan hätte, dass die sogenannte militärische Sonderoperation Russlands bis zum 9. Mai, dem Tag des Sieges, abgeschlossen werde, jedoch glaube der Papst an sich nicht sehr an solch eine Perspektive.

Einige Äußerungen des Pontifex haben bereits eine lebhafte Reaktion in Russland ausgelöst. Vor allem versetzte die Charakteristik für den Patriarchen von Moskau und Ganz Russland Kirill in Erstaunen. Gelinde gesagt nicht sehr achtungsvoll spricht sich der Papst über den „Bischof des Dritten Roms“ aus. Er verwendet den Begriff „Ministrant Putins“, was sofort im russischen Segment der größten sozialen Netzwerke Verbreitung fand. Das Oberhaupt der katholischen Kirche verwendete das italienische Wort „chierichetto“. In der englischen Übersetzung „altar boy“ (das Interview wurde vor allem in einer Darlegung der Nachrichtenagentur Reuters nacherzählt, obgleich die italienische Zeitung selbst eine eigene englischsprachige Interview-Fassung publizierte) und auch in russischsprachigen Übersetzungen sieht dies recht erniedrigend aus: Altarjunge, Altardiener, Ministrant. Im italienischen Wort gibt es auch ein stilistisches Element, das eine Verkleinerungs- bzw. Koseform vermittelt (-etto). Überhaupt aber stehen in der katholischen Tradition einem Geistlichen am Altar meistens kleine Jungs, nun oder Halbwüchsige als Gehilfen zur Seite. In Bezug auf den Patriarchen, der im November vergangenen Jahres 75 Jahre alt geworden ist, zeugt die Verwendung solch eines Wortes eindeutig von keiner großen Achtung. Andererseits darf jedoch nicht vergessen werden, dass Papst Franziskus im letzten Dezember 85 Jahre wurde.

Zu spüren ist, dass der Papst über seinen russischen Visavis enttäuscht ist. Er berichtete über Details des Online-Gesprächs, das er mit dem Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche am 16. März geführt hatte. Nach Aussagen des Pontifex hätte der Patriarch die Hälfte der Zeit (ca. 20 Minuten lang) vom Papier eine „Begründung des Krieges“ vorgelesen. (Russlands Aufsichtsbehörde für die Massenmedien und das Internet Roskomnadzor hält solch eine Bezeichnung für den von Präsident Putin am 24. Februar befohlenen und begonnenen Konflikt für eine Falschinformation und schreibt den Massenmedien in Russland vor, das Geschehen in der Ukraine als „militärische Sonderoperation“ zu bezeichnen.) Damals hatte der Papst dem Patriarchen gesagt: „Bruder, wir sind keine Staatskleriker und dürfen nicht die Sprache der Politik, sondern müssen die Sprache Jesu sprechen. Wir sind Hirten desselben heiligen Volkes Gottes. Deshalb müssen wir nach Wegen des Friedens suchen und die Waffen stoppen. Der Patriarch kann sich nicht zum Ministranten Putins machen“. Das heißt: Jetzt verstehen wir, dass Franziskus bereits Mitte März auf das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche eingeredet hatte. Nunmehr ist klar, warum Kirill leichten Herzens zugestimmt hatte, dass ihre Begegnung im Juni keine zeitgemäße, ein ambivalentes Zeichen gewesen wäre.

Damit hat der Papst zu verstehen gegeben, dass er nicht mehr mit der Autorität des Patriarchen bei der Stiftung von Frieden rechne. Die Russische orthodoxe Kirche habe nach Meinung des Oberhaupts der katholischen Kirche einfach keine erforderlichen Vollmachten. Die Russische orthodoxe Kirche ist aus der Sicht keine führende, sondern eine geführte Kraft, die sich der staatlichen Zweckmäßigkeit unterordnet.

Der Pontifex sagte, dass er nur auf direkte Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin setze. Das Oberhaupt des Vatikans gestand ein, dass er dem Kreml mehrfach angeboten hätte, sich auf einen Dialog einzulassen. Der Papst verzichtet sogar darauf, zuerst nach Kiew zu reisen. Zuerst – nach Moskau. Aus Moskau gebe es jedoch bisher keine Antwort. „Ich befürchte, dass Putin dieses Treffen gerade jetzt nicht durchführen kann und nicht will“, räumte Franziskus ein.

Dabei stellte er eine für eine westliche Führungsfigur recht ungewöhnliche Sichtweise auf die Situation vor. Er urteilt darüber, dass es in den Kampfhandlungen in der Ukraine nicht irgendeinen einzigen Anstifter gebe. Da ergibt sich, dass ein Teil der Schuld beim Westen liege, der Moskau gereizt und aufgestachelt hätte. Und da verwendet der Papst recht scharfe Formulierungen. „Vielleicht hat das Gebell (ital.: l’abbaiare) der NATO an den Toren Russlands Wut ausgelöst“, was den Kreml dazu gebracht habe, „falsch zu reagieren und den Konflikt zu entfesseln.“ „Ich kann nicht sagen, ob diese Wut durch die NATO provoziert wurde, möglicherwiese hat es aber (diese Entscheidung) erleichtert“, vermittelt die Mailänder Zeitung die Überlegungen des Papstes. Und wenn sie nicht provoziert habe, so habe sie einen Anlass für die militärische Sonderoperation gegeben.

Ohne ein Recht auf Selbstverteidigung grundsätzlich in Frage zu stellen, wiederholte der Papst seine Zweifel zu Waffenlieferungen an die Ukraine. Und weiter stellt der Pontifex Überlegungen über eine mögliche Interessiertheit beider Seiten an den Kampfhandlungen an. Nach seiner Meinung würden sowohl Russland als auch der Westen den Konflikt für eine Erprobung neuer Waffen ausnutzen. Daher ist gerade das größte Unglück für den Papst die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine. „Ich weiß nicht, wie ich antworten soll, ich bin zu weit entfernt von der Frage, ob es gerechtfertigt ist, die Ukrainer zu beliefern.“ Es ist eine klare Sache, dass Waffen auf diesem Boden erprobt werden. Die Russen wissen jetzt, dass ihre Panzer wenig nützten „und denken schon an andere Dinge. Dafür werden auch Kriege geführt, für eine Überprüfung der hergestellten Waffen. So war es während des Bürgerkrieges in Spanien vor dem Zweiten Weltkrieg. Der Handel mit Waffen ist ein Skandal, gegen den wenige auftreten. Vor zwei oder drei Jahren war in Genua ein Schiff mit Waffen eingelaufen, die man auf einen großen Frachter umladen musste, um sie nach Jemen zu bringen. Die Hafenarbeiter wollten dies nicht tun. Sie sagten: Lassen Sie uns an die Kinder Jemens denken. Die ist eine Kleinigkeit, aber eine gute Geste. Solcher muss es sehr viele geben“. Gemäß dieser Analogie sei die international umstrittene russische militärische Sonderoperation in der Ukraine ein Präludium zu einem neuen Weltkrieg wie dies in Spanien der Fall gewesen war. „Syrien, Jemen, der Irak, ein Krieg nach dem anderen in Afrika. In allem gibt es internationale Interessen. Man darf nicht denken, dass ein freier Staat einen Krieg gegen einen anderen freien Staat führen kann. In der Ukraine haben den Konflikt andere geschaffen“, sagte der Papst. Gerade deshalb müsse man den Konflikt stoppen. Jedoch sei nicht eine einzige der Seiten daran interessiert, dies zu tun.

 

Das Papst-Interview zum Nachlesen:

Italienisch — https://www.corriere.it/cronache/22_maggio_03/intervista-papa-francesco-putin-694c35f0-ca57-11ec-829f-386f144a5eff.shtml

Englisch in einer Übersetzung der Zeitung „Cоrriere della Sera“ — https://www.corriere.it/cronache/22_maggio_03/pope-francis-putin-e713a1de-cad0-11ec-84d1-341c28840c78.shtml