In der Föderation Jüdischer Gemeinden Russlands (FJGR) hat man am Mittwoch die jüngsten Äußerungen des russischen Außenministers Sergej Lawrow kommentiert, die einen internationalen Skandal ausgelöst hatten. Es sei daran erinnert, dass der Minister auf eine Frage darüber, wie in der Ukraine Nazismus existieren könne, wenn dort der Präsident Wladimir Selenskij sei, geantwortet hatte, dass „die größten Antisemiten Juden sind“. Doch die größte Empörung hatten die Worte Lawrows ausgelöst, wonach Hitler angeblich „jüdisches Blut“ gehabt hätte.
Der Präsident der FJGR, der Rabbiner Alexander Boroda, ist aus diesem Anlass mit einer Erklärung aufgetreten. „Im Zusammenhang mit der entstandenen informationsseitigen Situation rund um die Passage von Herrn Lawrow über mögliche jüdische Wurzeln Hitlers scheint es für uns notwendig zu sein, zu einer Einstellung eines Appellierens an die nationale Herkunft von Opponenten aufzurufen“, heißt es in diesem Statement. Gleichfalls erklärte er, dass man nicht „Verweise auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die eine nötige Ehrfurcht und Pietät verlangt“, missbrauchen dürfe, „denn das Echo jener Ereignisse ist nach wie vor eine nichtverheilende Wunde für die Völker der Welt. … Wenn noch vor kurzem umstrittene historische Diskussionen möglich waren, so ist dies, da die Wahrnehmung zu sehr sensibilisiert worden ist, unzulässig“, meint Boroda. „Selbst ohne einen Vorsatz vorgenommene derartige Äußerungen werden zu einem überaus mächtigen Katalysator für weitere zerstörerische Handlungen. … Unter jeglichen Umständen wird die jüdische Gemeinde den heiligen Charakter der Erinnerungen an die Holocaust-Tragödie bewahren sowie weder die Mörder, die die Schuld für das vergossene Blut von Millionen unschuldigen Opfern tragen, noch die Helden, die die Maschine des Todes besiegten, vergessen“, versprach der Präsident der Föderation Jüdischer Gemeinden Russlands.
Zuvor hatte Russlands Oberrabbiner Berl Lazar auf eine Anfrage amerikanischer Journalisten geantwortet. „Ich halte mich natürlich nicht dazu berechtigt, dem Chef der russischen Diplomatie Ratschläge zu geben. Es wäre aber gut, wenn er sich gegenüber den Juden entschuldigen, einfach eingestehen würde, dass er sich geirrt hat“, erklärte der Rabbiner. „Wenn man aber zum Wesen spricht, so hätte es Sinn gemacht, die Geschichte des Holocausts nicht auf den jetzigen Konflikt zu beziehen“, fügte Berl Lazar hinzu. „Die Erinnerungen an den Holocaust sind nicht nur für mein Volk heilig. Sie nehmen einen besonderen Platz hier, in Russland ein, wo Millionen das Leben hergegeben haben, um die Welt vor dem Nazismus zu retten. Und den Holocaust mit irgendwelchen heutigen Widersprüchen und Konflikten in Verbindung zu bringen, dies ist meines Erachtens eine Schmälerung der Heldentat der Soldaten, die Auschwitz befreiten und das Siegesbanner auf dem Reichstag hissten“.
Es sei daran, dass auf die Äußerungen von Sergej Lawrow Politiker Israels recht scharf reagiert hatten. Besonders unfreundlich war ein Kommentar von Außenminister Jair Lapid, der in der israelischen Regierung die Rolle eines „bösen Polizisten“ in Bezug auf Russland spielt. Lapid nimmt im Kabinett die Funktion eines „Verbindungsmanns“ zum westlichen Establishment wahr, was sich besonders während des Machtwechsels in den USA von Donald Trump zu Joseph Biden ausgezahlt hatte. Und mit Russland unterhält Premierminister Naftali Bennett die diplomatischen Kontakte. Er versucht dabei, das Erbe von Benjamin Netanyahu zu bewahren, der einst gute Beziehungen mit Russlands Präsident Wladimir Putin angebahnt hatte.
Natürlich ließ sich das russische Außenministerium sofort auf einen weiteren schriftlichen Schlagabtausch mit den israelischen Kollegen ein. In ihrer Erklärung tauchten die Diplomaten der Russischen Föderation noch tiefer in die finsteren Abgründe der Geschichte des 20. Jahrhunderts ein und erinnerten beispielsweise an die Judenräte in den Ghettos. Allerdings hatten sie nicht präzisiert, dass man unter Androhung des Todes zu Mitgliedern der Judenräte geworden war. Und mit Selenskij sieht die Sache anders aus. Ihn hat ja doch das Volk gewählt, ungeachtet dessen, dass es in der Ukraine neonazistische Aktivisten gibt.
Es ist schon seit langem festgestellt worden, dass das Holocaust-Thema in den gegenwärtigen Konflikten zwischen Moskau und Kiew sowie Moskau und Warschau zu einem gern genutzten geworden ist. Ja, und die Israelis selbst hatten vor noch nicht allzu langer Zeit die Ukraine aufgrund der Vielzahl von Antisemitismus-Fällen kritisiert, woran man nun auch im Außenministerium der Russischen Föderation erinnerte.
Allerdings trägt das weitreichende Zirkulieren des Holocaust-Themas als eine universelle Messlatte für jegliche Ungerechtigkeit in der heutigen Welt seine Früchte. Viele wissen um diese Seite der Geschichte. Die meisten haben aber nur flüchtig über diese schwarzen Zeilen einen Blick streifen lassen. Von daher augenscheinlich auch das Aufkommen des Mythos vom Judentum Hitlers aus dem Munde des 72jährigen Lawrows. Freilich hatte der Minister selbst mehrfach den Vorbehalt formuliert, dass er nicht sicher sei, ob er recht habe. Was seine anderen Aussagen angeht, so kann man deren Herkunft ebenfalls ermitteln.
Die Behauptung von den jüdischen Antisemiten beispielsweise ist nicht aus der Luft gegriffen worden. Dies ist schon einhundert Jahre lang eine wirklich verbreitete Aussage in jüdischen Studien. Es existiert der Begriff „jüdischer Selbsthass“. Ihn hatte der deutsche Philosoph und Publizist Theodor Lessing (1872-1933) durch die gleichnamige Arbeit „Der jüdische Selbsthass“ (1930 im Jüdischen Verlag erschienen – Anmerkung der Redaktion) festgeschrieben. Dieses Phänomen wird als eine neurotische Reaktion jüdischer Intellektueller auf den Antisemitismus der umgebenden europäischen Bevölkerung beschrieben. Als Beispiel wird üblicherweise die Figur des österreichischen Philosophen Otto Weininger (1880-1903) angeführt. Einiges kann man darüber in dem Sammelband „Die Queer-Theorie und die jüdische Frage“ nachlesen, der im Jahr 2020 in russischer Sprache durch den Verlag „Knischniki“ („Schriftgelehrte“), der mit der FJGR assoziiert ist, herausgegeben wurde. Möglicherweise hat man im Außenministerium dieses Buch auch gelesen. Wahrscheinlich ist aber, dass man den US-amerikanischen Film „Inside a Skinhead“ (Originaltitel: „The Believer“) von Henry Bean aus dem Jahr 2001 gesehen hat, in dem auf Hollywood-Manier diese Frage untersucht wird.
Andererseits missbraucht man wirklich die Assoziationen mit dem Holocaust und Hitler-Deutschland sowohl von russischer als auch von ukrainischer Seite. Da kommen einem in den Sinn, dass die Aussagen von Wladimir Selenskij über die Rolle der Ukrainer im Schicksal der Juden der UdSSR während eines Auftritts in der Knesseth gleichfalls für einen großen Eklat gesorgt hatten. Und es sei direkt gesagt: Um die Genauigkeit und Vollständigkeit der Geschichtskenntnisse ist es bei den unterschiedlichsten Politikern schlecht bestellt.
Aber in der Reaktion der Israelis ist ebenfalls die Gewohnheit auszumachen, hypertrophiert alles in der Welt Geschehende durch das Prisma des historischen Traumas durch den Antisemitismus wahrzunehmen. Schon mehrfach ist gesagt worden, dass ein generelles und ausdrückliches Zuwenden zu historischen Tragödien nicht immer angebracht ist, darunter auch in jenen Fällen, in denen dies selbst durch die israelischen Politiker gehandhabt wird.
Allerdings kann in der Zukunft das Thema der Erinnerungen an den Holocaust und die historischen Traumata des jüdischen Volkes in den Schatten rücken. In der letzten Zeit war dieses Thema im Westen in Vielem durch Anstrengungen russischer Unternehmer jüdischer Herkunft, die patriotisch sowohl gegenüber Russland als auch Israel eingestellt sind, propagiert worden. Heutzutage sind jedoch gegen sie Sanktionen des Westens verhängt worden. Mäzene haben ihre Vermögen und Posten in den internationalen jüdischen Organisationen verloren. Es ist durchaus möglich, dass das Aufhören des einst ununterbrochenen Wachhaltens der Erinnerungen an die Holocaust-Opfer seitens des westlichen Publikums – und nicht ohne eine Erleichterung – durch ein Mitgefühl für Opfer anderer politischer und militärischer Kataklysmen ersetzt wird. Das Thema wird aufhören, auch bei Politikern ein gängiges zu sein. Und zusammen damit werden die Anlässe geringer werden, die Beamten zu ertappen, die ähnlich Kostja Batistschew aus dem sowjetischen Spielfilm „Warten wir den Montag ab“ von 1968 arrogant und gemein die Geschichte den eigenen einfachen Bedürfnissen anpassen.