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Die sowjetischen ideologischen Erfahrungen haben sich als nützlich erwiesen


Das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulausbildung der Russischen Föderation beabsichtigt, den Umfang des Pflichtunterrichts zum Lehrfach „Geschichte“ in den Hochschulen bis auf 144 Stunden zu erweitern. Wobei es die Studenten jeglicher Fachrichtungen studieren müssen – ab dem Projektieren von Kernreaktoren bis zur künstlerischen Leitung eines akademischen Chorkollektivs.

Das Wissenschafts- und Bildungsministerium hat einen Entwurf von Änderungen an allen Föderalen staatlichen Ausbildungsstandards für das Bachelor- und Fachstudium vorbereitet. Vorgenommen werden Änderungen am Block der obligatorischen Lehrfächer. Neben den Disziplinen (Modulen) zur Philosophie, Fremdsprache und Sicherheit der Lebenstätigkeit gehörte traditionell dazu die „Geschichte Russlands“. Nunmehr ist dieses Modul gesondert in einem Umfang von mindestens vier Anrechnungseinheiten ausgewiesen worden. Dabei muss die sogenannte Kontakt- (die Lehr-) Arbeit in seinem Rahmen mindestens 80 Prozent ausmachen (40 Prozent bei einem Fernstudium).

Es kann gleichfalls daran erinnert werden, dass in den geltenden Föderalen staatlichen Ausbildungsstandards „Geschichte“ als ein obligatorisches Lehrfach festgehalten worden ist. Dabei sind „keine Anforderungen an den Umfang und das Format des Geschichtsstudiums festgelegt worden“. Daher werde in vielen Hochschulen beim Studium dieses Lehrfachs ein erheblicher Teil der Zeit der selbständigen Arbeit der Studenten eingeräumt, betonte man im Pressedienst des russischen Bildungs- und Wissenschaftsministeriums.

Zugefügt sei gleichfalls, dass das Nichtvorhandensein einer einheitlichen Konzeption für das Unterrichten von Geschichte dazu führt, dass die Hochschullehrer eigenständig den Inhalt des Programms bestimmen können.

Und jetzt zu den sogenannten vier Anrechnungseinheiten (Testat-Einheiten). Sie sind zusammen mit dem 2stufigen System im Rahmen der Aufnahme des russischen Ausbildungssystems in den Bologna-Prozess zu uns gekommen. Entsprechend den Empfehlungen des russischen Wissenschafts- und Bildungsministeriums kommt eine Anrechnungseinheit 36 akademischen Stunden gleich. So wird beispielsweise ein Semesterlehrgang von 36 Unterrichts- (72 akademischen) Stunden mit zwei Prüfungseinheiten bewertet. Das Ablegen einer Prüfung dazu entspricht einer Anrechnungseinheit. Alle Arten von Praktika werden gleichartig bewertet, unabhängig vom Ort und dem Charakter der Durchführung – mit anderthalb Anrechnungseinheiten in der Woche.

Es hatte den Anschein, wozu brauchen wir das System der „Anrechnungseinheiten“? Die Idee besteht hier aber darin, dass die Rolle der Anrechnungseinheiten nicht auf eine Messung der akademischen Belastung in größeren Einheiten im Vergleich zu einer akademischen Stunde hinausläuft. Ihre Verwendung im Studienprozess besitzt eine größere Bedeutung. So erlauben die Anrechnungseinheiten, die relative Bedeutsamkeit der Unterrichtseinheiten unterschiedlicher Art – Vorlesungen, Seminare, Laborstunden – für die entsprechende Lehrdisziplin zu erfassen. Die Anrechnungseinheiten helfen, die Bedeutsamkeit des einen oder anderen Lehrfachs, das durch den Studenten studiert wird, und dessen relativen Beitrag zur mittleren Bewertungsnote, die er nach Abschluss eines bestimmten Ausbildungsabschnitts erhält, zu bestimmen. Nun, es fördert aber auch eine Einordnung der Studenten entsprechend den Ausbildungsergebnissen und die Ermittlung des individuellen Ratings eines jeden Studierenden.

Und der akademische Status des Studenten wird in diesem Fall nicht durch die Gesamtzeit der Aneignung des Ausbildungsprogramms bestimmt, sondern durch die Anzahl der Anrechnungseinheiten und die mittlere Bewertungsnote, die in der entsprechenden Ausbildungsetappe erhalten wurde. Die Verwendung der Anrechnungseinheit als eine Messlatte für den erreichten Bildungsgrad bzw. Ausbildungsstand eines jeden Studenten und für eine Ermittlung dessen akademischen Status erlaubt, die Ausbildung zu individualisieren und von einer obligatorischen Anbindung der Unterrichtsstunden im Rahmen der Studiengruppe abzugehen. Anstelle einer synchronen Absolvierung der obligatorischen Ausbildungsetappen ergibt sich für die Studenten die Möglichkeit, zu einer asynchronen Organisierung des Studienprozesses überzugehen, der eine Erweiterung der akademischen Mobilität fördert.

Gegenwärtig werden die Anrechnungseinheiten in vielen Ländern der Welt als Maßeinheit für den Arbeitsaufwand der unterschiedlichen Ausbildungsprogramme genutzt, für die Bestimmung der Relevanz der Lehrdisziplinen, die deren Bestandteile sind.

Folglich belegt das Einräumen von vier Anrechnungseinheiten für ein Studium der „Geschichte Russlands“ in dem neuen Föderalen staatlichen Ausbildungsstandard (diese Belastung ist für etwa zwei Semester konzipiert worden) eine recht erhebliche Belastung für die Hochschulpläne. Umso mehr, wenn es sich um Hochschulen handelt, die ein völlig anderes Profil aufweisen. Außerdem müssen die Hochschulen neue Lehrkräfte finden und andere Studiengänge reduzieren, um die Geschichtslehrstunden in den Stundenplan zu integrieren. Wobei dies in den Maßstäben des Landes eine recht signifikante Schicht von Lehrkräften sein wird.

„Bei uns in Russland erhalten ganze 0,4 Prozent der Studenten eine professionelle historische Ausbildung. Und 99,6 Prozent der Studenten sollen sie studieren, machen dies aber tatsächlich unzureichend. Und gerade diese Auszubildenden wird auch die Neuerung betreffen“, erklärte Konstantin Mogiljowskij, stellvertretender Vorsitzender des Rates für die Entwicklung der historischen Ausbildung. Im russischen Wissenschafts- und Bildungsministerium hofft man, dass diese Maßnahme bei den Studenten ein tieferes Interesse für die Geschichte des eigenen Landes auslöst. In der letzten Zeit wird gerade diesem Lehrfach erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Jüngste signalisierte Bildungsminister Sergej Krawzow Pläne seines Ressorts, die Unterrichtsstunden in der Grundschule durch eine Geschichtsaufklärung zu ergänzen. Die Neurosprachwissenschaftlerin Tatjana Tschernigowskaja, die diese Situation in einem Interview für die „NG“ kommentierte (siehe https://www.ng.ru/education/2022-05-18/8_8438_education.html) erklärte, dass alles mit der Qualität der Menschen stehen und fallen werde, die diese Unterrichtsstunden vornehmen werden.

Bleibt nur daran zu erinnern, dass solch eine totale ideologische Ausbildung bzw. Schulung oft das Gegenteil erreicht. Sie veranlasst die Studenten, sich durchaus zynisch zu verhalten. Ganz nach dem Kipploren-Prinzip: angehäuft – angefahren – abgekippt (im Sinne von: die Prüfung abgelegt) – leer weitergefahren (im Sinne von: alles wird sofort vergessen). Anstelle dessen erziehen heute weitaus effizienter das eigentliche institutionalisierte System der Gesellschaft, die kulturellen Bräuche, Sitten und Traditionen des Landes. Ideen können koexistieren. Ideologien sind unversöhnlich.