Seit dem 24. Februar, als Russlands Präsident Wladimir Putin den Beginn der sogenannten „militärischen Sonderoperation in der Ukraine“ befahl, sind inzwischen 96 Tage ins Land gegangen. Millionen Menschen sind bereits aus der Ukraine geflohen. Allein in Deutschland wurden schon mehr als 600.000 Geflüchtete erfasst, vor allem Frauen und Kinder. Aber auch aus der Russischen Föderation kommen viele Menschen in die Bundesrepublik. Es sind vor allem Journalisten, Oppositionelle, Vertreter der Zivilgesellschaft oder auch aus dem Bereich von Kunst und Kultur. Mit dem international umstrittenen Vorgehen Moskaus in der Ukraine ist der Druck auf sie gestiegen.
Die Bundesregierung hat sich nun auf Regelungen für die unkomplizierte Aufnahme von Russinnen und Russen geeinigt, die in ihrem Heimatland als besonders gefährdet gelten. „Die immer brutalere Aggression Russlands gegen die Ukraine wird von immer stärkerer Repression nach innen begleitet, insbesondere gegen die Presse, gegen Menschenrechtler und Oppositionelle“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Zunächst hatten die Zeitungen der Funke-Mediengruppe über die Neuregelung berichtet.
„Wir bieten Russinnen und Russen, die verfolgt und bedroht werden, in Deutschland Schutz“, erklärte die SPD-Politikerin. „Und wir werden insbesondere russischen Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit geben, von Deutschland aus frei und unabhängig zu berichten.“ Für die schnelle und unbürokratische Aufnahme gebe es nun ein Verfahren, das die Einreise erleichtern und Verfahren beschleunigen werde. „Selbstverständlich werden Personen, die wir so aufnehmen, von den Sicherheitsbehörden überprüft.“
Faeser begründete die Regelungen auch unter Verweis auf die Informationspolitik der russischen Regierung im Angriffskrieg gegen die Ukraine. „Der Kreml versucht seinen verbrecherischen Krieg mit infamen Lügen, mit der Umkehr von Tätern und Opfern und mit der Verdrehung der Geschichte zu rechtfertigen. Das zeigt, von welch fundamentaler Bedeutung freie und unabhängige Berichterstattung ist, die auch die russische Bevölkerung noch erreichen kann.“
Nach Angaben eines Sprechers des Innenministeriums sollen für Russinnen und Russen weiterhin die allgemeinen Einreisebedingungen gelten, wonach sie mit einem Pass einreisen und sich hierzulande aufhalten können. Je nach Aufenthaltszweck kann auch ein Visum nötig sein, zum Beispiel für russische Fachkräfte, die hier arbeiten wollen.
Insbesondere für Oppositionelle oder andere gefährdete Personen wie zum Beispiel Journalisten, die derzeit in Russland als besonders gefährdet gelten, besteht demnach im Einzelfall die Möglichkeit, über eine Regelung im Aufenthaltsgesetz ein Visum zu erhalten und längerfristige Aufnahme zu finden. Begründet wird dies dann mit der „Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“.
Das Verfahren sieht vor, dass sich zunächst die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), und das Auswärtige Amt über Personen für eine Aufnahme abstimmen. Das Bundesinnenministerium erteilt nach einem beschleunigten Verfahren, das auch eine Überprüfung durch die Sicherheitsbehörden umfasst, eine Aufnahmezusage. Für 16 russische Staatsangehörige inklusive Familien hat das Innenministerium gegenüber dem Auswärtigen Amt bereits seine Zustimmung erklärt. Am Ende erteilt die deutsche Botschaft dann ein Visum für Deutschland.
Voraussetzung für die Aufnahme wegen politischer Verfolgung in Russland ist eine individuelle Bedrohung. Die Aufnahme kann auch enge Familienmitglieder umfassen und gegebenenfalls auch aus anderen Staaten als Russland erfolgen. Zu den Gruppen, um die es geht, gehören besonders gefährdete Menschenrechtsverteidiger mit einem Bezug zu Deutschland sowie Vertreter und Unterstützer der demokratischen Opposition, die sich öffentlich gegen den russischen Angriff auf die Ukraine positioniert haben. Außerdem sollen auch Menschen profitieren, die für Organisationen gearbeitet oder mit ihnen zusammengearbeitet haben, die in Russland als „ausländische unerwünschte Organisationen“ gelten, oder Personen, die als „ausländische Agenten“ eingestuft werden, und die durch ihre bisherige Tätigkeit einen Bezug zu Deutschland haben.
Ferner geht es auch um Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft, bei denen ein Bezug zu Deutschland besteht und die sich ebenfalls in besonderer Weise gegen den Krieg gestellt haben. Das Gleiche gilt für Journalisten unabhängiger Medien, die Repressalien und Gefährdungen in Russland ausgesetzt sind, insbesondere aufgrund ihrer kritischen Berichterstattung. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, aus Deutschland weiter zu berichten. Auch Journalisten, die sich öffentlich gegen den russischen Krieg gestellt haben oder aufgrund ihrer kritischen Berichterstattung in staatlich kontrollierten Medien entlassen wurden, sowie Wissenschaftler, die sich öffentlich gegen den Krieg positioniert haben und ihre Wissenschaft nicht mehr frei und unabhängig ausüben können, sollen so Aufnahme finden.
Mit der nunmehrigen Entscheidung der Bundesregierung bekommen andere Initiativen neuen Rückenwind, die bereits vor einiger Zeit starteten. Dies gilt zum Beispiel für das Netzwerk aus Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften der Medien- und Kulturbranche, das ein Jobportal für Geflüchtete aus der Ukraine und aus Russland initiierte. Die von der Jobnet AG eingerichtete Webseite new-start.media ist mehrsprachig auf Ukrainisch, Deutsch, Englisch oder Russisch. „Es ist wichtig, dass Medienschaffende aus der Ukraine und aus Russland nach ihrer Flucht zu uns eine berufliche Perspektive bekommen“, sagte Frank Überall, Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands, der auch dem Netzwerk angehört. Im Weiteren sollen auch Basis-Sprachkurse und Community-Seiten zum Angebot zählen.
Verdi-Bundesvorstandsmitglied, Christoph Schmitz, betonte: „Für das Exil hier in unserer Gesellschaft wollen Arbeitgeber und Gewerkschaften einen Beitrag zum Aufbau eines Berufslebens in den bisherigen Berufen leisten. Die grausamen Fluchtursachen und der anhaltende Krieg in der Ukraine berühren uns alle“. Die Vorstandsvorsitzende des Bundesverband Schauspiel, Leslie Malton, erklärte, die Initiative wolle die Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine und Russland möglichst schnell mit Arbeitsangeboten unterstützen, „die ihren Qualifikationen entsprechen und ihnen damit wenigstens ein Stück weit Normalität sowie eine berufliche Perspektive hier in Deutschland geben“.
Die wichtigsten, mit Soforthilfemaßnahmen im April bereits angelaufenen Programme für Journalisten werden vom JX Fund in Berlin und dem Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit in Leipzig durchgeführt, deren Hilfsangebote für ExiljournalistInnen sowie für unter Druck geratene Medien in den nächsten Wochen und Monaten weiter ausgebaut werden. Teil der Überlegungen ist sogar der Umzug ganzer Redaktionen nach Deutschland, deren Arbeit in Russland (aber auch in Weißrussland und in der Ukraine) zuletzt unmöglich geworden ist. Konkrete Arbeitsangebote für qualifizierte JournalistInnen bietet aktuell insbesondere die Deutsche Welle für den jüngst beschlossenen Ausbau ihrer Russischen Redaktion. Die Beauftragte für Kultur und Medien (BKM) und das Auswärtige Amt wollen einen raschen Ausbau vor allem von Residenz- und Stipendienprogrammen inner- und außerhalb Deutschlands ermöglichen und weitere Hilfsangebote koordinieren.
Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass der Bundestag Mitte Mai den aktuellen Ergänzungshaushalt verabschiedete, wodurch relativ kurzfristig erheblich aufgestockte Fördermittel zur Verfügung stehen. Und nun geht es also auch darum, diese sinnvoll und wirksam einzusetzen.
Quellen: dpa, KNA