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Der Exodus eines Rabbiners aus Russland


Die Moskauer jüdische religiöse Gemeinde, deren Tätigkeit sich in der Choral-Synagoge konzentriert, hat einen ernsthaften Verlust hinnehmen müssen. Pinchas Goldschmidt, der im Frühjahr Russland verlassen hatte, wird nicht mehr das Amt des Moskauer Oberrabbiner sowie des Vorsitzenden des Rabbinergerichts der GUS und der Länder des Baltikums bekleiden. Dies ist umso mehr seltsam, da noch im Juni die Versammlung des Gemeindevorstands ihn für diese Ämter wiedergewählt hatte. Freilich, seitdem haben sich wichtige Ereignisse vollzogen. Am Vorabend des Tages, an dem der überraschende „Abschluss des Vertrages“ des geistlichen Oberhauptes und der hauptstädtischen jüdischen Kongregation bekannt wurde, hatte Goldschmidt sich lautstark von Russland verabschiedet.

„Wir teilen Ihnen mit, dass der Vertrag von Rabbiner Pinchas Goldschmidt beendet ist und er nicht mehr das Amt des Oberrabbiners von Moskau bekleidet“. Solch eine Bekanntmachung tauchte auf den offiziellen Informationsressourcen der Moskauer jüdischen Religionsgemeinde am 6. Juli auf. „Gleichfalls lenken wir Ihre Aufmerksamkeit darauf, dass das Rabbiner-Gericht weiterhin unter Führung des Hauptrabbinats von Israel arbeitet (und von ihm anerkannt wird)“.

In der Veröffentlichung wird ein sehr kurzes Statement von Goldschmidt für die Gemeindemitglieder angeführt: „Freunde, meine Arbeit in Russland als Moskauer Oberrabbiner ist vorerst beendet. Für mich war es eine große Ehre, in der Moskauer Choral-Synagoge zu dienen und für das Wohl der jüdischen Gemeinde Russlands all diese Jahre zu wirken. Ich wünsche Ihnen allen das Allerbeste, werde im Kontakt bleiben werde mich freuen, jedem von Ihnen Hilfe und Unterstützung zu gewähren“.

Viele haben die Aufmerksamkeit auf das Wort „vorerst“ in der Abschieds-„Notiz“ des Rabbiners gelenkt. Am Vorabend waren Behauptungen aufgekommen, dass die wahre Ursache für die Abreise des 59jährigen Goldschmidts aus Russland die Ablehnung der militärischen Sonderoperation in der Ukraine gewesen sei. Gleich nach der Ausreise im März hatte er erklärt, dass er nach Israel gereist sei, und begründete dies mit familiären Umständen.

Danach tauchten Präzisierungen auf. Anfang Sommer hatte seine Schwiegertochter Avital Chizhik-Goldschmidt, wie sie vorgestellt wird, eine israelische Journalistin, auf ihrem Twitter-Account geschrieben, dass der Rabbiner die Entscheidung über die Ausreise getroffen hätte, nachdem ihre Schwiegereltern „seitens der Offiziellen mit der Forderung unter Druck gesetzt wurden, die Sonderoperation in der Ukraine öffentlich zu unterstützen“. Die Verwandte teilt mit, dass Goldschmidt zwei Wochen nach Beginn der bekannten Ereignisse nach Ungarn geflogen sei. Angeblich habe er in diesem Land an der Hilfe für ukrainische Flüchtlinge als Freiwilliger teilgenommen. Und bereits danach sei er nach Jerusalem gereist.

Der Rabbiner selbst hatte sich erst am 5. Juli geäußert. In dem internationalen jüdischen Magazin „Mishpacha“ erschien ein Beitrag über die 33 Jahre, die von Goldschmidt im Dienst für die Moskauer Gemeinde verbracht worden waren. Und das Wichtigste, dort waren Erklärungen über die aktuelle politische Situation in Russland nachzulesen (https://mishpacha.com/do-svidaniya-russia/).

Es muss gesagt werden, dass die Auswahl der Form, um sich zu äußern, etwas Verwunderung auslöst. „Mishpacha“ erscheint in englischer Sprache und Iwrit (modernes Hebräisch). Für den russischsprachigen Leser ist das Magazin nicht bestimmt (vor allem, wenn er nicht Englisch beherrscht – Anmerkung der Redaktion). Ja, und die Thematik der Zeitschrift ist eher eine soziale und Familien-, denn eine politische.

„Ukrainische Juden erhalten riesige Hilfe. Und dies ist richtig“, sagte Goldschmidt unter anderem dem Autor des Beitrages. „Aber die weitaus größere jüdische Gemeinde Russlands befindet sich in großer Not. Sanktionen gegen die Oligarchen, die das Netzwerk jüdischer Institutionen unterstützten, haben die Finanzierung reduziert“, was Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft der Gemeinden auslöse. Bis zum 24. Februar hätte man sich so weit wie möglich von der Politik halten können. Aber nach Beginn der Sonderoperation hätte die Regierung klar zu verstehen gegeben, dass diejenigen, die nicht deutlich dafür auftreten würden, gehen müssten. Der Rabbiner behauptet, dass er ein klares Signal erhalten hätte, wonach er sich hinsichtlich seiner Haltung festlegen sollte. Er führte jedoch keine Details an.

Der in der Schweiz geborene Goldschmidt würdigt Präsident Wladimir Putin: Unter ihm sei im Land der Antisemitismus unterdrückt worden. Er betont auch die gute Haltung des russischen Staatsoberhauptes zu Israel. Nach Meinung des Rabbiners seien jedoch 90 Prozent der jüdischen Gemeinde nicht mit dem einverstanden, was sich in der Ukraine ereigne. Er berichtete, dass gleich nach Beginn der Kampfhandlungen viele angesehene Mitglieder der Gemeinde ins Ausland gegangen seien.

Der Rabbiner präzisiert, dass die Ursache ihrer Ausreise nicht so sehr eine politische als vielmehr eine wirtschaftliche sei. Das Ergebnis des Geschehens — „wirtschaftliche Stagnation und eine Abgeschnittenheit von der Welt – ist sehr unbequem für russische Juden“. „Beide, die ukrainische und die russische jüdische Gemeinde werden mit einer mittelloseren Zukunft konfrontiert werden“, sagt er voraus. „Der (finanzielle) Ausfall für unser eigenes Netzwerk an Einrichtungen beträgt als ein direktes Ergebnis des Krieges und der Sanktionen schon jetzt fünf Millionen Dollar“.

Betont sei, dass sich finanzielle Schwierigkeiten in der Gemeinde noch vor der Sonderoperationen ergeben hatten. Im Juli 2019 war es auf dieser Grundlage zu einem Zerwürfnis zwischen Pinchas Goldschmidt und Adolf Schajewitsch, Russlands Oberrabbiner entsprechend der Version des Kongresses der jüdischen religiösen Gemeinden und Organisationen, einer religiösen Vereinigung, der die Moskauer jüdische religiöse Gemeinde angehört, gekommen. Schajewitsch richtete an Goldschmidt ein Schreiben (eine Kopie befindet sich in der Redaktion), in dem er mitteilte, dass „in den vergangenen Jahren die Finanzierung der Gemeine praktisch eingestellt wurde“. „Es gibt keine Mittel für Gemeindeprogramme, die kommunalen Zahlungen, die Gehälter usw.“, hatte der Oberrabbiner geschrieben. „Die Schulden der Moskauer jüdischen religiösen Gemeinde steigen nur an. In den vierzig Jahren, die ich in der Synagoge diene, hatte es schwere Zeiten gegeben. Doch zu solch einem erbärmlichen Zustand ist die Gemeinde erstmals gebracht worden“.

Schajewitsch teilte mit, dass er seine Investoren herangezogen hätte, bestand aber darauf, dass die Verantwortung für die Angelegenheiten in der Gemeinde von nun an nur er persönlich tragen werde. Bald gelang es, das Zerwürfnis zu überwinden. Einzelheiten der Aussöhnung der Rabbiner hatte man jedoch nicht mitgeteilt.

Die Gemeindemitglieder der Synagoge erinnern sich noch an den Misserfolg mit der Errichtung eines Gemeindezentrums gegenüber dem Gebetshaus. Letzten Endes organisierten die hauptstädtischen Offiziellen dort einen Park, der bei den Moskauern zu einem populären wurde.

Zu jener Zeit hatte Goldschmidt neben den Ämtern in der Moskauer Gemeinde Pflichten auf internationaler Ebene. Im Jahr 2011 wurde er zum Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz (Conference of European Rabbis — CER) gewählt. In dieser Eigenschaft trat er mit einer Kritik an unterschiedlichen Gesetzesinitiativen in Ländern der Europäischen Union auf, vor allem an Verboten für ein koscheres Schlachten von Tieren. Im Juli 2021 warnte der Rabbiner sogar vor der Möglichkeit eines Exodus der Juden aus Europa im Falle einer Zunahme des Antisemitismus. „Der Unterschied zwischen dem, was vor 100 Jahren gewesen war, und dem, was sich heute ereignet, besteht darin, dass die Juden stets gehen können. Dies ist auch ein Plan B“, hatte Goldschmidt gesagt.

Es ist ein Jahr vergangen, und der Autor dieser Worte hat wirklich einen Exodus vorgenommen, allerdings ganz und gar nicht aus der EU. Er bleibt der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz. Im Rahmen dieser Organisation wirkt ein Rabbinergericht Europas. Goldschmidt führt dort aber nicht den Vorsitz, sondern nimmt nur an ihm teil.

„Ich habe das Gefühl, dass die überwältige Mehrheit nicht in einer neuen Sowjetunion leben möchte, die von der Welt isoliert ist“. Dies sei es gerade, wohin sich Russland und seine Juden bewegen würden, zitiert das Magazin „Mishpacha“ Goldschmidt. Es sei daran erinnert, dass er 1989 nach Moskau gekommen war, das heißt noch zu Zeiten der UdSSR. „Es besteht die durchaus reale Gefahr, dass alles hier, in den letzten 33 Jahren Aufgebaute zusammenbrechen kann“, warnt der Rabbiner. „Eben daher müssen wir die Gemeindestrukturen unterstützen, denn es wird auch nach Putin eine jüdische Gemeinde geben“.

Und hier ist die passende Zeit, sich des Wortes „vorerst“ zu erinnern, welches Goldschmidt in den Wortlaut seines kurzen Schreibens an die Gläubigen eingefügt hatte. Und der Beitrag in dem jüdischen Magazin, der als ein Präludium für den Rücktritt des Moskauer Rabbiners diente, trägt den Titel „DO SVIDANIYA, RUSSIA“. „Auf Wiedersehen“ und nicht „Adieu“!

Natürlich, dies sind nur Vermutungen, es gibt aber Gründe zu denken, dass die Kontakte Goldschmidts mit der Gemeinde der Moskauer Choral-Synagoge nicht abreißen werden. Man sollte nicht den Rängen, Ämtern und der Hierarchie in der jüdischen Community eine zu große Bedeutung beimessen. In Russland ist es üblich, mit einer Messlatte an alle religiösen Organisationen heranzugehen, die durch die politische Kultur des Landes bestimmt wird. Beginnend ab den Zeiten von Peter I. gestaltet der Staat überall eine Machtvertikale und akzeptiert nur ein unifiziertes Hierarchie-Schema.

Die traditionelle Struktur der jüdischen Gemeinden basiert jedoch nicht auf einem formalisierten System von Ämtern, sondern auf dem Prinzip einer informellen Führungsrolle. Diese Führungsrolle stützt sich auf zwei Grundpfeilern – den Kenntnissen auf dem Gebiet des religiösen Rechts und der finanziellen Leistungsfähigkeit. Ein geistlicher Führer erlangt Autorität, indem er sich auf diese Möglichkeiten stützt. Nicht der Amtssessel ziert einen Rabbiner, sondern das Vermögen, sich mit den Starken der Welt zu einigen.

  1. S.

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat sich ebenfalls dem Schicksal von Pinchas Goldschmidt zugewandt und veröffentlichte am Freitag ein Interview mit ihm. In dem skizzierte er noch einmal seine Situation vor der Ausreise aus Russland. Er habe vor einem enormen moralischen Problem gestanden. „Jeder, der sich zum Krieg äußert, läuft Gefahr, bestraft zu werden und ins Gefängnis zu kommen. Auf uns wurde Druck ausgeübt, dass sich die jüdische Gemeinde offiziell für den Krieg ausspricht“. „Weil wir keine Möglichkeiten hatten, etwas Kritisches zu äußern, haben wir anfangs beschlossen, gar nichts zu sagen. Das war für mich ein großes moralisches Problem: Ich schweige – und doch muss ich etwas tun. Deshalb habe ich mit meiner Frau beschlossen, Russland zu verlassen“. Hinsichtlich seines Rücktritts als Oberrabbiner von Moskau äußerte sich Goldschmidt so: „Ich bin zurückgetreten, um die Gemeinde nicht zu gefährden“. Die jüdische Gemeinde funktioniere zwar weiter in Russland, aber es gebe Probleme. „In den letzten Jahren wurden zum Beispiel mehr als zehn Rabbiner ausgewiesen, aus unterschiedlichen Gründen. Das ist ein Anzeichen dafür, dass die Situation sehr heikel ist.“

Der gebürtige Züricher bekommt mittlerweile mehr und mehr Telefonanrufe von Gemeindemitgliedern, die nach Israel gegangen sind. „Meine Ausreise hat wohl vielen Familien geholfen, auch diesen Entschluss zu fassen. Nach der jüngsten Statistik sind seit Kriegsbeginn sogar mehr russische als ukrainische Juden nach Israel eingewandert“, hob Goldschmidt hervor.