Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Wird die Rückkehr des Coronavirus zu einem politischen Problem?


Das COVID-Thema kehrt auf die Informationsagenda zurück. Die Tendenzen sind besorgniserregende. Ende Mai-Anfang Juni wurden in Russland täglich 2000 bis 4500 neue Fälle fixiert. Am 27. Juli waren es bereits mehr als 9.000 neue Erkrankungen. Und am Freitag – über 11.400 (etwas weniger als am Tag zuvor, als 11.515 neue Fälle gemeldet worden waren). Die Zunahme ist also eine spürbare, obgleich es bisher wesentlich weniger als zu Zeiten der Februar-Spitzenwerte sind. Damals erreichte die Anzahl der täglich ermittelten Neuinfektionen 200.000 Menschen. Die Erkrankungsrate ist aber bereits zu den April-Werten zurückgekehrt. Einst wurden auch solche Zahlen als sehr hohe angesehen. Gegenwärtig sehen sie eher als relativ akzeptable aus. Man kann sie aber nicht ignorieren.

Spezialisten nehmen an, dass im Sommer keine starke COVID-Welle zu erwarten sei. Doch im Herbst mit dem Absinken der Temperaturen, der saisonbedingten Zunahme der Verbreitung von Infektionen der oberen Atmungswege sowie der Rückkehr vieler Menschen aus dem Urlaub kann das Coronavirus erneut zu einem Problem werden. In mehreren Regionen ist man lokal schon zum Masken-Regime in Unternehmen zurückkehrt, vorgenommen werden Tests der aus dem Urlaub zurückgekehrten Arbeitnehmer.

Auf föderaler Ebene sieht man jedoch vorerst bewusst keine besonderen Gefahren. Die Anzahl der an der neuen Coronavirus-Untervariante Centaurus erkrankten russischen Bürger würde im Land ganz sieben ausmachen, teilte die stellvertretende Direktorin des Zentralen Epidemiologe-Forschungsinstituts der russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor, Natalia Pschenitschnaja, dieser Tage mit. „Dies ist ein ganz unerheblicher Anteil. Und die Erkrankungsrate ist bisher keine so rasante, wie es zu Jahresbeginn gewesen war, als „Omikron“ „herumgezogen war“. Es gebe keine Notwendigkeit für eine Wiederaufnahme der Restriktionen auf föderaler Ebene, meint sie. Doch die Empfehlungen zum Tragen von Schutzmasken für anfällige Bevölkerungskategorien und hinsichtlich einer Revakzinierung einmal in sechs Monaten würden weiter gelten, betonte die Vertreterin von Rospotrebnadzor.

Vorerst scheint augenscheinlich die Situation wirklich unter Kontrolle zu sein. Bei den Erkrankten verläuft die Infektion vor allem in einer leichten Form, die keine stationäre Behandlung erfordert. Wie Rospotrebnadzor-Chefin Anna Popowa erklärte, werde im Land eine Zunahme der COVID-19-Erkrankungen aufgrund der neuen Omikron-Varianten erwartet, sie würden aber nicht zu einer Zunahme der Anzahl der belegten Bettenplätze führen.

Dabei haben die Offiziellen auch politische Gründe, das Coronavirus „nicht zur Kenntnis zu nehmen“. In der Gesellschaft gibt es auch ohne dem viele Stress-Faktoren. COVID hatte man, wie sich herausstellte, schon besiegt, indem man es in eine „gewöhnliche“ Erkrankung vom Typ einer Grippe verwandelte. Die unpopulären Restriktionen sind der Vergangenheit anheimgefallen. Man will keine neue Zunahme der öffentlichen Beunruhigung aufgrund einer neuen Pandemie-Welle zulassen. Besonders angesichts der im September anstehenden Regionalwahlen ist unklar, wie sich eine neue COVID-Welle auf das politische Verhalten der Bürger auswirken kann. Früher waren die Absichten, obligatorische QR-Codes für Geimpfte einzuführen, schon zu einem negativen politischen Faktor geworden. Und man musste diese Idee fallen lassen. Und laut einer aktuellen Umfrage des Internetportals SuperJob traten für eine erneute Einführung eines Maskenregimes nur 23 Prozent der Befragten ein, dagegen – 48 Prozent. Das Verhältnis ist ein überzeugendes. Beinahe der Hälfte der Befragten sind nicht bereit, erneut obligatorische Anti-COVID-Maßnahmen zu befolgen, obgleich sie helfen werden, ihre Gesundheit zu bewahren. Russlands Bürger sind bereits davon müde geworden, in einer Pandemie-Welt zu leben. Und sie wollen keine Rückkehr in diese, wobei sie es vorziehen, die Gefahr einfach „zu vergessen“.

Die Offiziellen werden verständlicherweise die Erkrankungsrate verfolgen und notwendige Ressourcen für den Falle einer nicht zu kontrollierenden Entwicklung der Situation bereithalten. Solange aber solch eine Möglichkeit bestehen wird, wird das „weißrussische“ Szenario für eine Bekämpfung aktuell sein – ohne Quarantänen, mit einem Minimum an Restriktionen sowie mit einer minimalen Informationskampagne, die auf jene abzielt, die von der Gefährlichkeit des Virus überzeugt sind und sich vor ihm gern schützen würden. Nicht geplant ist, Druck auf die Mehrheit auszuüben, die nicht dazu geneigt ist, auf ihre Gesundheit aufzupassen, um keine zusätzlichen Spannungspunkte zu schaffen. Der relativ leichte Verlauf der Krankheit bei den neuen Stämmen erlaubt, sich recht lange an solch eine Strategie ohne erhebliche Risiken zu halten.