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Ein „eiserner Vorhang“ und gegenseitige Expropriationen: Wohin führt die Sanktionsspirale?


In Europa versuchen die Spitzenvertreter, die antirussische Sanktionspolitik zu beleben. Zur Diskussion in der Europäische Union ist der Vorschlag über ein Verbot für die Erteilung von Schengen-Visa für Bürger der Russischen Föderation gestellt worden. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij den Westen aufgefordert, zumindest für ein Jahr die Grenzen für Bürger Russlands zu schließen. Nach seiner Meinung würden alle Einwohner Russlands Verantwortung für die Handlungen der Staatsbeamten tragen. „Die Bevölkerung hat diese Herrschenden gewählt, und sie kämpft nicht gegen sie, sie streitet nicht mit ihr, sie schreit sie nicht an. Gehen und leben Sie dort! Nur so kann man auf Putin Einfluss nehmen“, meint Selenskij, wobei er noch vorschlägt, beinahe alle Bürger Russlands in die Heimat abzuschieben.

Die europäischen Nachbarn der Russischen Föderation urteilen auch in diesem Geiste. Estlands Regierungschefin Kaja Kallas hält es für notwendig, die Ausstellung von Touristenvisa für Bürger Russlands einzustellen. Die baltischen Länder haben dies im Übrigen bereits getan. Visa erteilen würden aber andere Länder der Schengen-Zone erteilen, klagt die Politikerin. „Der Besuch Europas, dies ist ein Privileg und kein Menschenrecht“, erklärte sie. Finnlands Premierministerin Sanna Marina hat sich etwas zurückhaltender geäußert. „Wir können die Ausstellung von Visa nicht ausbremsen. Das heißt: faktisch die Einreise einschränken, obgleich sie formal offen ist“. In der Europäischen Kommission steht man bisher Visa-Verboten skeptisch gegenüber. Die Idee wird man beim EU-Gipfeltreffen im Oktober erörtern. Die Chancen, dass Europa einen „eisernen Vorhang“ herabsenken lässt, sind geringe.

Aber allein schon die Behandlung des Themas von einer kollektiven „Nichtvollwertigkeit“ der Bürger Russlands wird zu einem Geschenk für den Kreml. Für die Pro-Westler ist dies eine nicht zu verbergende Enttäuschung. (Ihre Hysterie in den sozialen Netzwerken haben die Offiziellen sicherlich mit Genugtuung zur Kenntnis genommen.) Für die Anti-Westler ist dies eine deutliche Bestätigung dessen, dass sie recht haben. Die apolitischen neutralen Bürger werden lediglich aufnahmebereiter gegenüber der Propaganda. Die Thesen von den auswärtigen Feinden werden objektiv durch solche Erklärungen untermauert.

Das Rechnen damit, dass die nichteinverstandenen Emigranten zurückkehren und „das Regime stürzen“ werden, ist so phantastisch, dass sich die Zweifel ergeben: Wird wirklich gerade dieses Ziel verfolgt (und nicht zum Beispiel der Wunsch, Russlands Bürger insgesamt zu bestrafen und zu erniedrigen)? Seit Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine haben die Offiziellen explizit die Ausreise der unzufriedenen Bürger nicht behindert. Im Ausland verursachen diese für sie weniger Scherereien. Wenn Europa geschlossen wird, werden sie andere Locations finden. Wenn sie aber zurückkehren müssen, so werden sie sich in ihrer Hauptmasse mucksmäuschenstill verhalten. Es gibt keine Helden.

Scheinbar macht den Herrschenden eine andere Perspektive weitaus mehr Sorgen. Bisher frieren die westlichen Länder im Rahmen der Sanktionen russische Aktiva ein. Moskau handelt symmetrisch. Was aber, wenn man beginnt, diese Vermögen zu konfiszieren? Solche rechtlichen Mechanismen sind in den USA, in Kanada, der EU und in der Ukraine in der einen oder anderen Weise bereits ausgearbeitet worden. Experten warnen: Im Rahmen des siebenten Pakets der EU-Restriktionen hat Brüssel die unter die Sanktionen fallenden Personen verpflichtet, Rechenschaft über ihr Eigentum in Europa abzulegen. Ein Umgehen dieser Forderung kann eine strafrechtliche Verfolgung und Konfiszierung des Besitzes nach sich ziehen.

Moskau wird erneut analog handeln müssen, indem es Eigentum einzieht, das mit den sogenannten unfreundlichen Ländern verbunden ist. Bemerkenswert ist, dass die Offiziellen bisher selbst eine Erörterung dieser Idee blockiert haben. Eine entsprechende Gesetzesvorlage des Krim-Parlaments hatte der Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Staatsaufbau und Gesetzgebung, Pawel Krascheninnikow (Kremlpartei „Einiges Russland“), im Frühjahr scharf zurückgewiesen. Jetzt ändert sich die Rhetorik. „Wir brauchen eine klare Rechtsgrundlage für eine Konfiszierung (als Antwortmaßnahme) von ausländischem Eigentum“, erklärte ein anderer einflussreicher Parlamentarier, der Senator Andrej Klischas (Kremlpartei „Einiges Russland“). Nach seinen Worten würde man sich damit im Herbst befassen.

Der Kreml begreift: In der gegenwärtigen Situation des gegenseitigen Einfrierens von Vermögen können die Seiten noch „den Rückwärtsgang einlegen“. Wenn aber die Sanktionsspirale vom Wesen her zu Expropriationen führt, so wird dies faktisch unumkehrbar. Allem nach zu urteilen, beginnen die Herrschenden, sich in dieser Frage gerade auf solch eine Variante vorzubereiten.