Michail Uljanow, ein 63jähriger Diplomat, vertritt seit Januar 2018 Russland bei den internationalen Organisationen in Wien. Mitunter ist er im russischen Staatsfernsehen zu erleben. Nun aber hat er sich besonders „weit aus dem Fenster gehängt“. Ende letzter Woche veröffentlichte er einen Tweet, den man nicht anders als skandalös bezeichnen kann: „No mercy to the Ukrainian population!“ (https://twitter.com/OlegNikolenko_/status/1560952848623476737?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1560952848623476737%7Ctwgr%5E9ba87fba83986f7d12e1cc8b4e80d4b2422f7bda%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.eurointegration.com.ua%2Frus%2Fnews%2F2022%2F08%2F20%2F7145281%2F). „Keine Gnade für die ukrainische Bevölkerung!”. Auf der offiziellen Internetseite des russischen Außenministeriums ist bisher kein Kommentar zu diesen Worten zu finden, womit sich der Gedanke aufdrängt: So denken wohl viele hochrangige Vertreter in Russland nach einem halben Jahr der militärischen Sonderoperation in der Ukraine. Und untermauert wird dies durch die scheinbar endlosen politischen Talk-Shows im russischen Staatsfernsehen, die sich laut Meinung von Beobachtern zu tagtäglichen Tiraden von Hass, Beleidigungen und Kränkungen gegenüber dem ukrainischen Volk verwandelt haben. Ob Wladimir Solowjow oder Olga Skabejewa, Oleg Popow (der überdies auch Abgeordneter im russischen Unterhaus für die Kremlpartei „Einiges Russland“ ist, was im deutschen Fernsehen beispielsweise ein Unding wäre) oder Artjom Scheinin, diese russischen Staatspropagandisten lassen keine Gelegenheit aus, um die Ukrainer ohne jegliche Differenzierung rundweg als Neonazis oder Neofaschisten zu diffamieren. Sie haben einen verheerenden Nährboden geschaffen, der das russische und das ukrainische Volk immer mehr auseinanderbringt.
Mitunter ist in Gesprächen an russischen Küchentischen zu hören, dass die Ukrainer gar kein richtiges Volk seien. Sie seien undankbar (hinsichtlich der Hilfe des Westens, die viele ukrainische Flüchtlinge gleichfalls in Deutschland zu spüren bekommen haben), auf eigene Vorteile aus. Offensichtlich haben diejenigen, die solche Gedanken formulieren, die Worte des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Hinterkopf. In seiner großen Fernsehansprache an das Volk sagte er am 21. Februar dieses Jahres unter anderem: „Wichtig ist auch dies zu verstehen, dass die Ukraine vom Wesen her nie eine beständige Tradition einer eigenen wahren Staatlichkeit hatte. Beginnend ab 1991 ist es den Weg eines mechanischen Kopierens fremder Modelle gegangen, die sowohl von der Geschichte als auch von den ukrainischen Realitäten losgelöst waren… Der gesamte Grundgedanke der sogenannten prowestlichen Zivilisationsentscheidung der ukrainischen oligarchischen Herrschenden bestand und besteht nicht darin, die besten Bedingungen für ein Wohlergehen des Volkes zu schaffen, sondern darin, unterwürfig den geopolitischen Rivalen Russlands Leistungen zu erbringen und die Milliarden Dollar, die von den Ukrainern durch die Oligarchen geraubt wurden und auf Konten in westlichen Banken versteckt worden sind, zu bewahren“, erklärte Präsident Putin vor einem halben Jahr. Außenamtssprecherin Maria Sacharowa unterstreicht ebenfalls stets und ständig, dass die heutigen ukrainischen Offiziellen keine Souveränität besitzen würden. „Das Einzige, was das Kiewer Regime tun kann ist, die Anweisungen zu nutzen, die von der anderen Seite des (Atlantischen) Ozeans kommen, wobei sie dies aber — gelinde gesagt — nicht immer erfolgreich und entgegen den Interessen des Volkes tut“.
Stehen aber die Menschen im Putin-Reich hinter solchen Worten wie die des russischen Diplomaten Uljanow? Wohl kaum, auch wenn laut jüngsten Umfrageergebnissen der Stiftung „Öffentliche Meinung“ vom 19. August 37 Prozent der befragten Russen die Militäroperation in der Ukraine nach wie vor für das bedeutendste Ereignis der Woche halten. Dabei würdigen die Befragten die Wiederaufbauarbeiten durch russische Kräfte in zahlreichen ukrainischen Städten und Ortschaften und das Vorrücken der russischen Truppen im Donbass. Andererseits ist jedoch nicht zu übersehen: Russlands Bürger sind müde geworden von der am 24. Februar begonnenen Sonderoperation. Der unabhängige soziologische Dienst „Russian Field“ ermittelte Ende Juli, dass 59 Prozent die Auffassung vertreten, dass sich die Operation in die Länge gezogen hat. Ja, im Frühjahr hatten viele in Russland gedacht und gehofft, dass es für Moskau ein Leichtes sein werde, die von Wladimir Putin gestellten Ziele und Aufgaben zu erfüllen. Es ist aber alles anders gekommen: Die ukrainische Bevölkerung steht mehrheitlich hinter ihrem Präsidenten Wladimir Selenskij, bekommt umfangreiche Hilfe vom kollektiven Westen und die Menschen im Nachbarland Russlands sind motiviert, wissen, für welche Werte sie streiten, die sie im Laufe von 31 Jahren Unabhängigkeit der Ukraine erworben haben. In Russland begreifen überdies sehr viele Menschen: Dies ist kein Krieg gegen das ukrainische Volk, dies ist ein Kampf gegen das sogenannte Regime in Kiew. Laut der letzten Bevölkerungszählung lebten 1,9 Millionen Ukrainer in der Russischen Föderation. Russisch-ukrainische Ehen sind ebenfalls keine Seltenheit. Zahlen zu diesen Mischehen aus dem Jahr 2020 belegen, dass vor allem russische Frauen einen Ukrainer ehelichten. Vergessen werden darf ebenfalls nicht, dass über die Grenzen hinweg nach wie vor Familienbande zwischen Russen und Ukrainern bestehen.
Ein halbes Jahr nach Beginn der russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine wird immer deutlicher: Der Konflikt wird noch lange andauern, pessimistischste Prognosen sprechen von einem Ende im nächsten Jahr. Angesichts dieses Umstands verständlich die Hoffnung und der sehnlichste Wunsch, dass dieser Albtraum für beide Völker so schnell wie möglich endet. „Russian Field“ ermittelte in diesem Zusammenhang die bemerkenswerte Zahl: Wenn Putin morgen eine Beendigung der Operation und die Unterzeichnung eines Friedensabkommens ankündigen würde, würden dies 65 Prozent der Befragten billigen. Ob man im Kreml solch einem Verlangen Gehör schenkt, ist eine andere Frage. Schließlich nimmt fast jeden Tag die Zahl der eingeleiteten Ordnungs- und Strafverfahren wegen einer angeblichen Diskreditierung der Handlungen der russischen Armee auf ukrainischem Territorium zu.