In weniger als zwei Monaten finden in Weißrussland die sechsten Präsidentschaftswahlen statt. Zum ersten Mal seit 1994 ist die Wahlkampagne zu einem interessanten Ereignis geworden. In der Gesellschaft ist die Hoffnung aufgekommen, dass man durch die geheime Willensbekundung das Staatsoberhaupt wechseln kann.
Die Wahl von Alexander Lukaschenko vor 26 Jahren war eine Lösung der Krisensituation, von der das alte, seine Zeit durchgemachte sowjetische System erfasst worden war, und eine Protestabstimmung gegen den Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch. In dem vergangenen Vierteljahrhundert haben sich die Generation und die Zeit verändert. Der Fernseher, der dem Oppositionsabgeordneten Lukaschenko geholfen hatte, 1994 zu gewinnen, ist aus der Mode gekommen. Lange Jahre hat das Regime konstant balanciert, wobei es die minimalen Basisbedürfnisse für das Existieren des Menschen abgesichert hat. Die sich in der weißrussischen Gesellschaft vollziehenden tektonischen Veränderungen sind durch die Stagnation, Degradierung und das Streben nach einer Erneuerung ausgelöst worden.
Unter den Teilnehmern des gegenwärtigen Wahlkampfes lösen bei den Offiziellen die größte Beunruhigung der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Belgazprombank, Viktor Babariko, und der frühere Leiter des Parks für Hochtechnologien, Valerij Zepkalo, aus, die „hinter der Scheuerleiste hervorgekommen sind“. Zu einem Phänomen des Wahlkampfs sind die fast kilometerlangen und mehrstündigen Warteschlangen in dutzenden weißrussischen Städten während der Unterschriftensammlung für die Gattin des Bloggers Sergej Tikhanowskij und andere alternative Kandidaten geworden. Damit artikulieren die Bürger dem amtierenden Präsidenten ein Misstrauensvotum.
Umfragen, die auf populären weißrussischen Internetseiten durchgeführt wurden, haben erstaunliche Zahlen gezeigt – bis zu 57 Prozent für Babariko. Und Lukaschenko lag lediglich auf dem vierten Platz mit einem Ergebnis von 3 bis 7 Prozent. Nach Veröffentlichung dieser Zahlen hat das Informationsministerium jegliche soziologischen Untersuchungen zum Rating des Staatsoberhauptes im Internet verboten.
Es wird erwartet, dass Viktor Babariko über 500.000 Unterschriften sammeln kann. Mit solch einem Ergebnis ist er faktisch schon zu einem Führer des Volkes und zur Ursache von Kopfschmerzen für die Offiziellen geworden. Geklärt wird die Frage, wie man den Bankier nicht zu den Wahlen zulassen kann. Mit einer Vorlage des Staatschefs hat eine Informationsattacke gegen den Kandidaten begonnen, über Mitstreiter wird Druck ausgeübt und finden Durchsuchungen in der Bank und bei Mitgliedern der Initiativgruppe statt. Lukaschenko, der versucht, die Konkurrenten auszuschalten, wird mit den Mitteln und Methoden nicht zimperlich sein.
Die mögliche Nichtauftauchen der beiden Hauptkandidaten Viktor Babariko und Valerij Zepkalo auf den Stimmzetteln wird automatisch zu einem Verlust der Legitimität Lukaschenkos in den Augen des eigenen Volkes führen, aber auch die Anerkennung der Wahlen nicht nur seitens des Westens, sondern auch Russlands in Frage stellen. Schließlich wird Moskau, nachdem es unter den Ergebnissen bei umfangreichen Fälschungen unterschrieben hat, sich in einer unangenehmen Lage erweisen. Lukaschenko wird zu einem Triumphator und weltweit einzigen Politiker, der imstande ist, den Kreml öffentlich zu erniedrigen, wobei er als Gegenleistung Unterstützung und eine Finanzierung erhält. Im Westen bleibt der weißrussische Staatschef ein geschmähter Politiker. Doch in der letzten Zeit wurde er zu einer idealen Speerspitze gegen Russland. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass dieses Mal Washington und ihm folgend auch die europäischen Länder ihre Position abschwächen können.
In Weißrussland ist die Meinung verbreitet, dass sich Lukaschenko nur dank dem Kreml an der Macht halte. Darin steckt etwas Wahrheit. Die Unterstützung der weißrussischen Wirtschaft mit Ressourcen seitens Russlands im Verlauf von zwei Dezennien hatte erlaubt, ein hohes Lebensniveau der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, was sich auch im Rating des amtierenden Staatsoberhauptes widerspiegelte. In den letzten Jahren verringert sich die Subventionierung der weißrussischen Wirtschaft. Und die außerordentlich große Abhängigkeit von einem Markt untergräbt die Grundlagen der ungetrübten Stabilität. Außerdem hat Alexander Lukaschenko die Möglichkeiten eingebüßt, Fragen in Moskau zu klären, wobei er mehrfach seine vollkommene Unfähigkeit bestätigt, Einigungen zu erzielen. Es ist unmöglich, diese Tatsache selbst unter dem Make-up aus der diplomatischen Puderdose zu verbergen.
Alexander Lukaschenko sieht in der letzten Zeit etwas verschreckt aus, doch in der Öffentlichkeit versucht er zu demonstrieren, dass die Situation unter Kontrolle sei. Das Team des Präsidenten hat Premierminister Sergej Rumas, ebenfalls ein ehemaliger Bankier, verlassen, der wahrscheinlich beim Casting in Bezug auf Loyalität durchgefallen war. Täglich macht das Staatsoberhaupt bei Beratungen mit uniformierten Männern der Bevölkerung mit „Maidans“ und „Rebellen“ Angst und droht an, mit allen Nichteinverstandenen unbarmherzig abzurechnen. Es wird offensichtlich, dass Alexander Lukaschenko, der keine Möglichkeit hat, sein Rating zu erhöhen, ein Gewalt-Szenario für die Machterhaltung gewählt hat, was die unberechenbarsten Konsequenzen nach sich ziehen kann.
Traditionell wird Lukaschenko die Repressalien gegen seine politischen Konkurrenten mit Verweisen auf Russland bemänteln, um einer Kritik seitens des Westens zu entgehen. Das weißrussische Fernsehen führt eine von der Dimension her beispiellose Informationskampagne zugunsten des amtierenden Staatschefs, womit es unverblümt gegen die Wahlgesetzgebung verstößt. Lukaschenko versucht, sich in der Rolle des Opfers einer angeblichen Einmischung „russischer Oligarchen“ in die weißrussischen Wahlen darzustellen. Die erfolgten Durchsuchungen in der Belgazprombank, deren Aktionäre „Gazprom“ und die „Gazprombank“ sind, — dies ist der offensichtliche Wunsch der weißrussischen Offiziellen, Russland in den Wahlkampf hineinzuziehen. Es wird die Version von einer russischen Spur hinsichtlich der 900.000 US-Dollar gepusht, die unter einer Couch im Wochenendhäuschen des Bloggers Sergej Tikhanowskij gefunden wurden. Lauter einer der kursierenden Versionen bestehe die Aufgabe des Straßenaktivisten in einem „Dampfablassen“ der über die Behörden unzufriedenen Bürger, was er bisher schafft. Die Festnahmen mehrerer Hundert Menschen und die gesammelten Unterschriften für die Gattin des Bloggers erlauben den Behörden, eine Namensliste potenzieller Protestteilnehmer zu erstellen. Doch wie die Praxis zeigt, können Straßenaktionen nicht nach einem Szenario verlaufen und ganz und gar auch spontan beginnen, wie jüngst in den USA.
Der weißrussische Staatschef versucht auf jeden Fall, sich einer öffentlichen äußeren Unterstützung zu versichern. Bei dem im Mai abgehaltenen virtuellen Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter der Eurasischen Wirtschaftsunion hatte er mitgeteilt, dass er alle Staatschefs im Herbst in Minsk erwarte, womit er seine Wiederwahl als eine vollendete Tatsache unterstrich. In einer offiziellen Pressemitteilung, die durch die weißrussische Seite zu den Ergebnissen des kürzlichen Telefonats mit Chinas Staatsoberhaupt verbreitet wurde, ist unterstrichen worden, dass Xi Jinping Lukaschenko unterstütze und er sich dessen Sieges bei den Wahlen sicher sei. Das bevorstehende Treffen mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow in Minsk, der Besuch der Siegesparade in Moskau durch den Präsidenten Weißrusslands und das Anfahren des weißrussischen AKW werden von den staatlichen Medien als die vorbehaltlose Tatsache einer öffentlichen Unterstützung der Kandidatur von Alexander Lukaschenko seitens des Kremls ausgenutzt.
Knapp zwei Monate vor dem Wahltag ist es unmöglich, eindeutig vorauszusagen, wie dieses Mal die Präsidentschaftswahlen ausgehen werden. In Weißrussland hat sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine vorrevolutionäre Situation herausgebildet, die sich entweder auflöst oder im Oktober ähnlich dem armenischen Machtwechsel-Szenario wiederholen kann. Man muss also auf völlig überraschende Entwicklungen vorbereitet sein. Alles liegt ausschließlich in den Händen des weißrussischen Volkes und des ersten Präsidenten Lukaschenko, der noch sein letztes Wort auf dieser „Orgie“ sagen kann.