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Das Szenario eines Nuklearkrieges der Supermächte wird realer


Die Eskalierung der Krise in der Ukraine kann zu unvorhersehbaren Konsequenzen für die ganze Welt führen. Besonders im Fall einer großen Havarie in Kernkraftwerken sowie eines Einsatzes einer „schmutziger“ Atombombe oder spezieller Munition aus dem Arsenal der Massenvernichtungswaffen durch die Seiten. Aus der Zone für die Durchführung der sogenannten militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine treffen weiterhin besorgniserregende Informationen über Zwischenfälle in der unmittelbaren Nähe von Atomreaktoren ein.

Eine ganz aktuelle Nachricht kam vom Stromerzeugungsunternehmen „Energoatom“ – des ukrainischen Staatsunternehmens, das als Betreiber aller funktionierenden Kernkraftwerke des Landes und größter Stromerzeuger mit einem Anteil der gesamten Erzeugung im gesamtnationalen Maßstab von etwa der Hälfte auftritt.

Der unter der Kontrolle der Regierung in Kiew stehende Konzern „Energoatom“ bezichtigt Russland eines Raketenschlages gegen das Südukrainische AKW. Wenn man den Informationen von „Energoatom“ glauben schenkt, so ist gegen das Objekt eine Rakete abgefeuert worden, „die auf dem Territorium der Industriezone heruntergefallen ist“, in einer Entfernung von 300 Metern vom nächstgelegenen Reaktorblock. Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation kommentiert derartige Erklärungen nicht.

Das Südukrainische AKW liegt unweit des Flusses Südlicher Bug, drei Kilometer von der Stadt Juschnoukrainsk des Verwaltungsgebietes Nikolajew entfernt. Informationen vom Ort der Geschehen bestätigen, dass sich am 19. September, in der Dunkelheit auf dem Territorium des Kraftwerkes eine starke Explosion ereignet hatte. Möglicherweise ist sie durch die Detonation von Artilleriegeschossen ausgelöst worden, die durch die Streitkräfte der Ukraine in Hilfsbauten des AKW gelagert worden waren. Dies belegen Foto- und Videoaufnahmen von Augenzeugen, auf denen ein heller Schein am Himmel über dem Südukrainischen AKW festgehalten wurde, der der Flamme einer großen Explosion ähnlich ist.

Mitgeteilt wird, dass sich an der Explosionsstelle ein zwei Meter tiefer und im Durchmesser vier Meter großer Krater gebildet hätte. Durch die Druckwelle sollen Hauptproduktionsgebäude beschädigt und über einhundert Fensterscheiben in die Brüche gegangen sein. Die Automatik hat eines der Hydroaggregate des Alexandrowka-Wasserkraftwerkes, das zum Südukrainischen Energiekomplex gehört, aber auch drei Hochspannungsfreileitungen abgeschaltet. Dabei behauptet „Energoatom“, dass alle drei Reaktorblöcke des Südukrainischen AKW weiter normal arbeiten würden, und es gebe keinerlei Gefahr für ein Funktionieren des Kraftwerkes.

Derweil melden Vertreter der prorussischen Militär- und Zivilverwaltungen der südöstlichen Verwaltungsgebiete der Ukraine einen andauernden Beschuss kritischer Objekte des Energiesystems durch die Artillerie der ukrainischen Streitkräfte. Geschosse hätten Schaltwerke beschädigt, die den elektrischen Strom zwischen den Verwaltungsgebieten Saporoschje und Cherson verteilen. Daher hatten am 19. September das AKW Saporoschje und die benachbarten Wärmekraftwerke die Stromlieferungen an die Verbraucher in Cherson und angrenzenden Ortschaften eingestellt.

Dies erfolgte bald nach einer Erklärung der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA), wonach das AKW Saporoschje wieder (nach der Abschaltung am 26. August) im Bestand des ukrainischen Energienetzes funktioniere. Dies erfolgte dank der Anstrengungen von Reparaturteams, die die Schäden an einer der vier äußeren Hauptlinien der Hochspannungsleitungen, die während des Konflikts in Mitleidenschaft gezogen worden war, beseitigten.

IAEA-Chef Rafael Grossi gesteht ein, dass „die Situation eine instabile bleibt“, er enthält sich aber Vorwürfe gegen irgendeine der Konfliktseiten aufgrund der entstandenen Lage. Worauf der Generaldirektor des russischen Staatskonzerns „Rosatom“, Alexej Lichatschjow, anmerkte: Die Spezialisten der IAEA würden ausgezeichnet verstehen, wer das Saporoschje-Kraftwerk beschießt, in den Erklärungen der Agentur werde aber „eine politische Komponente“ hinzugefügt. Die projektierte Leistung des AKW Saporoschje beträgt 6 Gigawatt (die meisten seiner Reaktorblöcke funktionieren gegenwärtig nicht), was zweimal mehr als die Leistung des Südukrainischen AKW ist.

Auf dem von Kiew kontrollierten Territorium befinden sich noch zwei weitere arbeitende AKW – das AKW in Chmelnizkij und das in Rowno mit einer Gesamtleistung von rund fünf Gigawatt. Insgesamt umfasst das ukrainische nationale Energiesystem 15 Reaktorblöcke (13 vom Typ VVER-1000 und zwei vom Typ VVER-440).

Vor diesem Hintergrund werfen Militärs und Politiker der USA weiterhin Vermutungen über eine baldige Änderung der Strategie und Taktik für die Durchführung der militärischen Sonderoperation durch den Kreml in den Nachrichten-Strom. Bei einer Konferenz zur nationalen Sicherheit erklärte der Direktor der Defense Intelligence Agency des Pentagons, Scott D. Berrier: „Jetzt sind wir zu einem Moment angelangt, an dem, denke ich, Putin die Ziele seiner Operation aufgrund der schwierigen aktuellen Lage bei eingeschränkten Ressourcen revidieren muss“.

Zu diesem Thema äußerte sich auch US-Präsident Joseph Biden. Auf die Frage eines CBS-Korrespondenten antwortend, was er dem russischen Amtskollegen sagen würde, wenn der die Möglichkeit des Einsatzes von Kern- oder chemischen Waffen behandeln würde, meinte Biden: „Nein, nein, nein. Du änderst das Kriegsbild“. Der Journalist interessierte sich gleichfalls, was es für Folgen für Russland geben werde, wenn es Kernwaffen einsetze. „Denken Sie, ich würde Ihnen dies sagen, wenn ich dies genau wüsste?! Natürlich werde ich dies Ihnen nicht sagen“, antwortete Biden. „In solch einem Fall wird Russland jedoch zu einem großen Aussatz in der Welt als je zuvor“.

Vor lediglich einem Monat hatte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärt, dass Moskau keine Pläne für einen Einsatz von Massenvernichtungswaffen in der Ukraine hätte. Die Erklärungen westlicher Spitzenvertreter und Massenmedien, die das Gegenteil behaupteten, bezeichnete Schoigu als „Falschinformationen und Lüge“. Nach Meinung des Verteidigungsministers „besteht aus militärischer Sicht keine Notwendigkeit für einen Einsatz von Kernwaffen in der Ukraine für das Erreichen der gestellten Ziele“. Eine analoge Position hatte im September auch Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten formuliert. Mit seiner Ansprache vom 21. September hat jedoch Kremlchef Wladimir Putin jedoch neue Akzente gesetzt.

Es sei angemerkt, dass nicht alle amerikanischen Politiker die Haltung von Biden und Berrier sowie anderen Vertretern der von der Demokratischen Partei der USA gebildeten Administration teilen. Bei einer Kundgebung der Republikaner sagte der ehemalige US-Präsident Donald Trump: „Die Demokraten sprechen nicht darüber, dass sie eine Partei der Desinformation sind, unter anderen hinsichtlich Russlands und allem, was sie tun“.

Das Ausufern des Konflikts in der Ukraine mit einem Hineinziehen von NATO-Ländern in ihn führe zu einem Einsatz taktischer Kernwaffen. Zu solch einer Schlussfolgerung veranlassen die Überlegungen in einem Beitrag für die Nachrichtenagentur Bloomberg von Hal Brands, Professor an der Johns-Hopkins-Universität (Baltimore). Brands schreibt, dass die USA materiell nicht für einen ernsthaften Konflikt mit China und Russland vorbereitet seien. Eine wichtige Lehre aus der Krise in der Ukraine und den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges bestehe darin, dass die agierende Armee „eine unwahrscheinliche Menge an Raketen, Artilleriegeschossen und anderer Munition verwendet“. Weiter meint Brands: „Der Krieg in der Ukraine ist keine Schlacht zwischen zwei Großmächten. Dies ist aber ein Beispiel dafür, wie schwer es ist, in dem Konflikt von einer hohen Intensität weiter zu kämpfen“. Wenn der Mangel an konventionellen Waffen zu einem kritischen werde, werde die Seiten, die ihn verspürt, gezwungen sein, zu taktischen Kernwaffen zu greifen. So könne der Konflikt zu einem Schlagabtausch unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen ausarten.

Ein Krieg zwischen Russland und der NATO würde entsprechend einem schrecklichen Szenario erfolgen und zum Tod von Millionen Menschen in der Welt innerhalb weniger Stunden führen. Darüber schreibt das US-amerikanische Magazin „Newsweek“ unter Berufung auf den Dozenten der Princeton-Universität Alex(ander) Glaser. Mitarbeiter der Universität hätten versucht, die Konsequenzen einer großangelegten bewaffneten Konfrontation zwischen den Supermächten zu skizzieren. Dafür setzten sie einen speziellen Simulator ein und entwickelten ein Szenario für den Konflikt. Gemäß diesem Szenario würde Russland auf eine Offensive der NATO mit dem Führen eines Schlages mit taktischen Kernwaffen reagieren. Die Situation spitze sich zu, und die Konfliktseiten „können jeweils 30 größte Städte und Wirtschaftszentren gegenseitig zerstören“. Im Verlauf der ersten wenigen Kriegsstunden würden über 90 Millionen Menschen ums Leben kommen oder Verwundungen erhalten.

Nach Aussagen von Alex Glaser würden die Folgen eines globalen thermonuklearen Krieges für das Leben auf der Erde fatale sein: „Neben dem unmittelbaren Schaden, aber auch dem wirtschaftlichen und sozialen Kollaps wird ein nuklearer Winter einsetzen, der die Katastrophe verschlimmern wird“. Laut der Untersuchung der Princeton-Universität könne ein bewaffneter Konflikt zwischen den USA und der Russischen Föderation zum Tod von über fünf Milliarden Menschen führen.