Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Gibt es noch eine Chance für Ukraine-Verhandlungen?


Der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, hat erklärt, dass Europa aufgrund der Einschränkungen für russische Gaslieferungen ein sehr schwerer Winter erwarte. Er erinnerte an die Rolle Ankaras im Prozess der friedlichen Regelung der Situation in der Ukraine. Zuvor war von der Initiative der Türkei, in Istanbul Verhandlungen zur Ukraine-Frage durchzuführen sowie Vertreter der Russischen Föderation und der vier führenden westlichen Staaten, der USA, Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens an einen Tisch zu bringen, berichtet worden. Türkische Offizielle informierten, dass die ersten Reaktionen einflussreicher Persönlichkeiten in Washington auf diesen Vorschlag „sehr positiv“ gewesen seien.

Nichts gesagt wurde darüber, ob Kiew unmittelbar an solchen Gesprächen teilnehmen soll. Das vorgeschlagene Format entspricht im Großen und Ganzen vollkommen den mehrfach formulierten geopolitischen Vorstellungen Moskaus. Dort betont man ständig, dass im Frühjahr der Dialog mit Kiew durchaus konstruktiv verlaufen sei, die ukrainischen Offiziellen seien zu Zugeständnissen bereit gewesen. Dann aber hätte man sie aus Washington zurückgepfiffen. Anders gesagt, der gegenwärtige Konflikt sei vom Wesen her eine Konfrontation Russlands und des Westens. Die USA und die NATO würden die Ukraine als ein Instrument ausnutzen. Daher müsse man sich nicht mit den Kiewer Offiziellen, sondern mit Washington und den europäischen Staats- und Regierungschefs einigen.

Wie dem nun auch sein mag, das Wort „Verhandlungen“ hat angefangen, in den Nachrichten häufiger als vor einem Monat, als vor zwei oder drei aufzutauchen. So unterbreitet die Vorsitzende des Föderationsrates (des Oberhauses des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion), Valentina Matwijenko, den ukrainischen Parlamentariern den Vorschlag, sich an einen Tisch zu setzen und Berührungspunkte zu finden. Andererseits erklingen aus Washington Worte von der Notwendigkeit einer friedlichen Konfliktregelung. So skizziert Elon Musk seine „Roadmaps“, und es tauchen Informationen über eine Teilnahme sowohl von Wladimir Putin als auch von Wladimir Selenskij am G-20-Gipfeltreffen auf Bali Mitte November auf.

Zur gleichen Zeit erklärt Kiew, dass Verhandlungen möglich seien, aber nicht mit Putin, sondern mit einem anderen Präsidenten. Die russischen Offiziellen halten ihrerseits die möglichen Lieferungen weitreichender US-amerikanischer Waffen an die Ukraine für einen Faktor, der jegliche möglichen Dialog cancele. Die Teilmobilmachung in Russland, die Angliederung von vier neuen Territorien an die Russische Föderation, die Explosion auf der Krim-Brücke, die Explosionen in Kiew und anderen ukrainischen Städten am Montagvormittag sowie der gegenseitige Beschuss, die rhetorisch gegenseitigen Anschuldigungen ähneln, darunter auch bei der Aktualisierung der nuklearen Agenda – all dies ähnelt nicht einer Situation, in der Verhandlungen nahe sind. Im Frühjahr war die Empfindung von der Nähe einer friedlichen Konfliktregelung stärker. Wahrscheinlich aufgrund dessen, dass man den Verlust der bisherigen „Normalität“ sehr schmerzlich aufgenommen hatte. In den vergangenen Monaten hat sich eine neue, eine konfliktbeladene „Normalität“ scheinbar im Bewusstsein durchgesetzt.

Die Welt inklusive Russlands und der Ukraine können sich wohl kaum einen wahrhaftig langen Konflikt (nicht zuletzt auch ökonomisch) erlauben, umso mehr mit der Gefahr einer nuklearen Eskalierung. Dies bedeutet, dass irgendwelche Nachrichtenkanäle und diplomatische Schritte in der einen oder anderen Weise zum Einsatz kommen. Zur gleichen Zeit geben die von Politikern abgegebenen Erklärungen einen Horizont der Erwartungen vor. Wenn Putin sagt, dass die vier Territorien, die dem Bestand Russlands beigetreten sind, für immer mit ihm bleiben würden, kann er nicht morgen, übermorgen oder in einen Monat von seinen Worten Abstand nehmen. Wenn Selenskij erklärt, dass sich die Ukraine anschicke, diese Gebiete zurückzuholen, wird es für ihn schwer werden zu sagen: Nein, wir können dies nicht.

Es ist schwierig, den Vektor der Arbeit der Propagandisten zu stoppen oder zu ändern. Sie sind zu sehr in den Konflikt involviert. Es ist unmöglich, eine Reihe bereits getroffener Entscheidungen ohne einen katastrophalen Einbruch des Ratings aufzuheben. Das Szenario für eine friedliche Konfliktregelung sieht unter solchen Bedingungen problematisch aus. Und das Szenario für eine endlose und unkontrollierbare Eskalation – außerordentlich gefährlich. Wenn sich die Seiten in der überschaubaren Perspektive über etwas einigen können, so über ein Einfrieren des Konfliktes, eine deklarative Einstellung der Kampfhandlungen für eine unbestimmte Zeitdauer. Dabei werden weiterhin Vorwürfe zu vernehmen sein. Die Propaganda-Maschinen werden ihre aktive Arbeit nicht beenden. Dies ist eine fragile, eine instabile Konstruktion. Sie gibt aber zumindest den Verfechtern eines Friedens Zeit, um nach einem stabileren Fundament zu suchen.