Bereits in wenigen Monaten kann auf der Landkarte Russlands erneut die Stadt Stalingrad auftauchen. Am Vorabend der Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Beginns der Gegenoffensive der sowjetischen Truppen in der Schlacht an der Wolga wandten sich Wolgograder Veteranen an Gouverneur Andrej Botscharow mit der Bitte, Hilfe zu leisten, um die historische Gerechtigkeit wiederherzustellen und Wolgograd seinen „wahren Namen“ – Stalingrad – zurückzugeben. Nachdem das Oberhaupt der Region den Veteranen Gehör geschenkt hatte, erteilte er den Auftrag, eine spezielle Arbeitsgruppe für die Untersuchung des Problems zu bilden, unter anderem aus der Sicht der Reaktion der öffentlichen Meinung auf eine mögliche Umbenennung. Danach waren in der Heldenstadt an der Wolga Journalisten, Blogger, Vertreter des öffentlichen Lebens und politische Experten aufgeschreckt worden – die einen mit Entsetzen, andere mit einer Hoffnung. Grundlagen für dieses ganze reiche Spektrum an Gefühlen gibt es – noch nie war die Wahrscheinlichkeit einer Umbenennung Wolgograds in Stalingrad so groß wie heute gewesen.
Diskussionen zum Thema einer Umbenennung waren unter den Wolgograd-Einwohnern stets populär gewesen. Die Redaktionen der einheimischen Massenmedien haben recht regelmäßig dieses Thema in der Hoffnung auf einen kurzzeitigen Hype ausgenutzt. Unterschiedliche Internet-Befragungen mit dem Thema „Sind Sie für Wolgograd oder Stalingrad?“ hatten Journalisten dann gestartet, wenn der Mangel an Informationsanlässen ein besonders akuter gewesen war. Einheimische Politiker brachten sich regelmäßig den teuren Wählern in Erinnerung, indem sie wiederum ihre prinzipielle Haltung zur Frage einer Umbenennung demonstrierten (die Kommunisten sind traditionell für Stalingrad, die regierende Partei „Einiges Russland“ ist traditionell ausweichend – „zuerst muss man das Volk fragen“). Soziologische Erhebungen, die in der Stadt an der Wolga seit den 90er Jahren durchgeführt wurden, haben etwa ein und dasselbe Bild der toponymischen Favoriten fixiert: Den Namen Wolgograd unterstützten rund 40 Prozent der Befragten, Stalingrad – ca. 30 Prozent, Zarizyn (der erste Name der Stadt, die 1589 gegründet wurde) – zehn bis 15 Prozent. Den übrigen 15 bis 20 Prozent der Befragten, die sich nicht festgelegt hatten, war alles egal.
Das föderale Zentrum hatte sich nicht in die lokalen Diskussionen zu den Wolgograd-Stalingrad-Themen eingemischt. Obgleich es auch nicht dagegen war, sie mitunter gleichfalls für die eigenen Interessen auszunutzen. So hatte sich am 9. Mai 1996 Präsident Boris Jelzin im Verlauf seiner Wahlkampfreise mit Wählern am Fuße des Mamajew-Kurgans unterhalten und sie mit „Stalingrader“ angesprochen, als er die Frage nach einer möglichen Rückkehr der Stadt zum Namen Stalingrad beantwortete. Er merkte an, dass „dies die Städter selbst entscheiden müssen“. Und damit war das Thema auch auf die lange Bank geschoben worden.
Im Mai 2011 hatte Präsident Wladimir Putin in Wolgograd die Bildung der Gesamtrussischen Volksfront bekanntgegeben, wobei er einen Satz formulierte, der sogleich zu einem recht populären wurde: „Wie werden wir denn ohne Stalingrad siegen!“. Die einheimischen „Pikee-Westen“ (Begriff aus dem 14. Kapitel des satirische Romans „Das goldene Kalb“ von den sowjetischen Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, der für die „ehrenvollen Alten“ aus der Stadt Tschernomorsk verwendet wurde, die über Gott und die Welt herumschwatzten – Anmerkung der Redaktion) hatten damals die Anmerkung des Präsidenten als eine Möglichkeit der Umbenennung der Stadt im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Sieges bei Stalingrad ausgelegt.
Laut Informationen der „NG“ hatte sich im August 2013, während eines erneuten Wolgograd-Besuchs von Putin, der damalige Gouverneur Sergej Boschenow beim Staatsoberhaupt vorsichtig hinsichtlich der Möglichkeit einer Umbenennung der Stadt in Stalingrad interessiert. Laut Gerüchten habe Putin damals entweder „nein“ oder „verfrüht“ gesagt.
Jetzt aber ist es scheinbar gerade die passendste Zeit.
Nur wenige der Wolgograder Politiker bezweifelt heute, dass die Initiative der einheimischen Veteranen hinsichtlich einer Umbenennung von Wolgograd in Stalingrad nicht nur mit dem Oberhaupt der Region, sondern auch in Moskau vorab abgestimmt worden war. Dies belegt auch die offenkundig positive Reaktion auf sie seitens des Gouverneurs Andrej Botscharow, der sich im Übrigen vor rund zwei Monaten mit Wladimir Putin getroffen hatte. Wie damals die Pressedienste des Staatsoberhauptes und des Gouverneurs mitgeteilt hatten, hatten Putin und Botscharow unter anderem die Frage zur Vorbereitung der Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges in der Stalingrader Schlacht gerade als gesamtrussische Feiern erörtert. Details dieser Fragen waren nicht genannt worden. Doch das heutige Auftauchen des Themas der Umbenennung auf der politischen Agenda eröffnet breiten Raum für Interpretationen. Es sei übrigens daran erinnert, dass das auf Anweisung von Putin gebildete Organisationskomitee zur Vorbereitung der gesamtrussischen Feierlichkeiten des kommenden Jubiläums des Sieges vor Stalingrad Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew leitet.
Es steht außer Zweifel: Die heutige politische Situation im Land ist für eine endgültige Lösung der Frage nach einer Rückkehr von Stalingrad auf die Landkarte Russlands äußerst günstig. Die nach dem 24. Februar begonnene mobilisierende Modernisierung des politischen Systems, die aktiv an die Ideologie und Mythologie der Sowjetzeit appelliert, bedarf einer Vergrößerung des symbolischen Kapitals. Stalingrad wird im sowjetischen symbolischen patriotischen Raum traditionell einer der wichtigsten Plätze eingeräumt. Und scheinbar kommt der Zeitpunkt, an dem man diese strategische symbolische Reserve zur Lösung der Aufgaben entsprechend der Formel „alles für die Front, alles für den Sieg“ hinzuziehen muss.
Es kann durchaus möglich sein, dass bereits am 2. Februar 2023, wenn – wie erwartet wird – Wladimir Putin in die Heldenstadt an der Wolga zu den Feierlichkeiten aus Anlass des 80. Jahrestages des Stalingrad-Sieges kommen wird, begonnen wird, die Entscheidung über die Umbenennung zu verwirklichen. Natürlich wird man bis dahin die Formalitäten wie eine Ermittlung der Meinung der eigentlichen Stadtbewohner bezüglich einer Änderung des Namens der Stadt einhalten müssen (beispielsweise durch ein digitales Referendum oder eine öffentliche Meinungsumfrage). Es ist jedoch offenkundig, dass es hierbei keine Probleme geben wird. Bei einer effizienten Informations- und Werbekampagne zur Unterstützung von Stalingrad wird man die Zahl der Anhänger einer Umbenennung recht schnell bis auf 50 bis 60 Prozent bringen können. Und wie die Praxis der jüngsten Wolgograder Plebiszite zeigt (unter anderem bezüglich der Frage nach der Zeitzone) werden danach die Emotionen der Unzufrieden erfolgreich auf Zuruf durch die sozialen Netzwerke und Internet-Foren geglättet. Folglich wird das gegenwärtige hektische Geschwätz der Gegner des Stalingrader Markennamens in einigen Wolgograder Massenmedien und in den sozialen Netzwerken ganz bestimmt nicht der Angelegenheit von staatlicher Wichtigkeit in die Quere kommen können.
Wie paradox es auch sein mag, doch einige Wolgograder Beamte und Abgeordnete können heute anfangen, nach Möglichkeit der Umbenennung in Stalingrad Widerstand zu leisten. Schließlich wird die Umwandlung einer der vielen Städte an der Wolga zur offiziellen dritten, zur patriotischen Hauptstadt Russland zu einem wahren Stress für die einheimische Bürokratie. Stalingrad verlangt von den Beamten eine andere Haltung zu ihren Pflichten und wird für sie die Kontrolle seitens des föderalen Zentrums verstärken. Denn in Wolgograd kann fast eine Woche lang ungestraft ungeklärtes Abwasser aus einem beschädigten Sammelkanal in die Wolga fließen, da die einheimischen kommunalen Betriebe dessen Schaden in keiner Weise beheben konnten, wobei sie noch obendrein zehntausende Einwohner der Stadt ohne Trinkwasser ließen. In Stalingrad ist so etwas nicht möglich. Zumindest ungestraft. Die Perspektive, unter einen harten kontrollierenden Druck seitens der zentralen Offiziellen zu geraten, für die es prinzipiell wichtig sein wird, die Rückkehr zum Namen Stalingrad durch eine Umwandlung der Stadt in das Hauptschaufenster des heutigen russländischen Patriotismus zu untermauern, erfreut überhaupt nicht die Wolgograder Bürokratie, die sich an eine recht gemessene und moderate Lebensweise gewöhnt hat.