Der Rückgang der Verkäufe von Lebensmittel, der bereits im April begonnen hatte, beschleunigt sich weiterhin. In den Sommermonaten fielen die Zahlen im Vergleich zu denen der Verkäufe im analogen Zeitraum des vergangenen Jahres um rund zwei Prozent geringer aus, im September – um 3,5 Prozent und im Oktober bereits um 4,3 Prozent. Solch eine Verringerung könnte man damit erklären, dass die Bürger Russlands aus Spargründen einfach weniger zu essen begonnen haben. Es gibt aber auch eine andere Erklärung: Im Land hat sich aufgrund der Emigration die Anzahl der Konsumenten von Lebensmitteln verringert. Experten halten beide Faktoren für relevante – sowohl die Verringerung der Bevölkerungszahl als auch die Sparversuche der verbliebenen Bürger.
Die letzten Daten des russischen Statistikamtes Rosstat zeigen, dass der Umsatz des Einzelhandels im Oktober um 9,7 Prozent im Vergleich zum Oktober des vergangenen Jahres zurückgegangen ist. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres schrumpfte der Einzelhandelsumsatz auf das Jahr hochgerechnet um 5,9 Prozent. Und entsprechend den Ergebnissen für das gesamte Jahr 2022 erwarten die Analytiker einen Einbruch des Einzelhandels um 6,6 Prozent. Rosstat fixiert dabei eine Vergrößerung des Anteils der Verkäufe über das Internet. So haben im Oktober die Verkaufsmengen über das Internet hinsichtlich der großen und mittleren Handelsorganisationen im Vergleich zum September um 3,2 Prozent zugenommen (in vergleichbaren Preisen). Und im Vergleich zum Oktober des Vorjahres sind sie um das 1,1fache angestiegen. Somit hat sich der Anteil der Online-Verkäufe am Einzelhandelsgesamtumsatz dieser Organisationen bis auf neun Prozent erhöht (gegenüber 7,2 Prozent im Oktober 2021).
Aus den Rosstat-Daten ergibt sich, dass in der Gesamtstruktur des Einzelhandels die Verkaufszahlen sowohl für Lebensmittel als auch für andere Waren zurückgegangen sind. Der Umsatz bei Lebensmitteln, Getränken und Tabakerzeugnissen ist so um 4,3 Prozent auf das Jahr hochgerechnet geschrumpft. Zum Vergleich: Entsprechend den September-Ergebnissen machte der Rückgang 3,5 Prozent aus. Nimmt man die ersten zehn Monate dieses Jahres, so sind es bisher insgesamt 0,9 Prozent. Der Einzelhandel mit Waren nicht aus der Kategorie „Lebensmittel“ ist im Oktober gleichfalls zurückgegangen. Hier hat sich jedoch der Trend zum Rückgang etwas verlangsamt. Entsprechend den Ergebnissen des zweiten Herbstmonats machte der Umsatz im ausgewiesenen Bereich 1,8 Billionen Rubel aus, was um 14,3 Prozent geringer als die Werte für das vergangene Jahr ist. Entsprechend den Septemberergebnissen machte der Schrumpfprozess noch 15 Prozent aus.
Bei den Experten des Telegram-Kanals MMI lösen die Angaben über den Rückgang gerade des Lebensmitteleinzelhandels Erstaunen aus. Dabei sieht der Einbruch im Lebensmitteleinzelhandel gleich um 4,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr äußerst erstaunlich und gar besorgniserregend aus. „Dies kann indirekt belegen, dass wir die Dimensionen der Mobilmachung und Emigration unterschätzen“, urteilen sie, wobei sie annehmen, dass diese Daten eine Verringerung der Anzahl der Verbraucher im Land belegen würden.
Einen ähnlichen Trend demonstrieren auch alternative Messungen hinsichtlich der Verbraucher-Stimmungen. Laut Angaben des SberIndexes, in dessen Rahmen die Wochendynamik der Verbraucherausgaben der Bevölkerung gemessen wird, machte beispielsweise entsprechend den Ergebnissen der letzten Oktoberwoche die Gesamtzunahme der Ausgaben für Waren und Dienstleistungen 5,5 Prozent im Vergleich zum Anstieg um 7,2 Prozent der Woche zuvor aus. Entsprechend den Oktoberergebnissen beliefen sich die Ausgaben der Haushalte für Waren und Dienstleistungen auf 4,85 Billionen Rubel, was in realen Zahlen um 7,3 Prozent weniger als im Vorjahr ist.
Der heutige Einbruch der Umsätze des Lebensmittel-Einzelhandels ist für die Russische Föderation keine einmalige Situation. Mit dem Beginn der Pandemie und der Coronavirus-Restriktionen hat die Bevölkerung die Einkäufe in den Läden verringert. Im April und Mai des Jahres 2020 machte beispielsweise der Rückgang der Umsätze des Lebensmitteleinzelhandels im Vergleich zu den analogen Zeiträumen des Vorjahres 8,2 bzw. 7,6 Prozent aus. Der Rückgang endete erst im April des Jahres 2021 – und wahrscheinlich aufgrund der Wirkung der geringen Berechnungsbasis.
Den Rückgang der Umsätze des Lebensmitteleinzelhandels erklärten die Experten der „NG“ auf unterschiedliche Art und Weise. „Die Hauptursache für die Verringerung des Einzelhandelsumsatzes im Oktober ist die nachhaltige Verlangsamung der Nachfrage. Die Verbraucher ziehen es vor, mehr zu sparen und weniger auszugeben. Dabei war die Dynamik des Lebensmittelhandels im Oktober besser als in den beiden vorherigen Monaten. Der Umsatz an Lebensmittelwaren ist um 1,8 Prozent im Monat angestiegen“, behauptet Igor Karawajew, Vorsitzender des Präsidiums der Assoziation der Einzelhandelsunternehmen. „Insgesamt kann man davon sprechen, dass das Konsummodell ein sparsameres geworden ist. Dies ist typisch für den Verbraucher unter Bedingungen einer Unbestimmtheit“, fügt Albert Korojew, Abteilungsleiter in der Investitionsfirma „BKS Welt der Investitionen“, hinzu.
„Spürbar ist die Tatsache eines Bevölkerungsabflusses, wobei in einem größeren Teil der Regionen mit einem hohen Niveau der Bevölkerungseinkommen und mit einem umfangreicheren Kassenzettel im Lebensmitteleinzel. Es macht jedoch keinen Sinn zu vergessen, dass die Bevölkerungszahl der Russischen Föderation durch die neuen Territorium zugenommen hat“, urteilt Jekaterina Selenskaja, Geschäftsführerin des Unternehmens „Buchhaltungshaus TOBU“. Den Rückgang der Handelsumsätze beeinflusst die Verringerung der ausländischen Markennamen, darunter auch im Lebensmitteleinzelhandel, aber auch der Rückgang des Imports von Lebensmitteln. „Ein separater und der bedeutsamste Faktor ist die Verringerung der Realeinkommen von Russlands Bürgern“, fährt sie fort. Mit diesen Schlussfolgerungen ist insgesamt auch das Mitglied des Generalrates der Unternehmervereinigung „Business-Russland“, Alexander Chaminskij, einverstanden. „Russland haben über 700 große ausländische Unternehmen verlassen. Folglich ist eine Vielzahl qualifizierter Mitarbeiter ohne ein stabiles Einkommen geblieben. Außerdem haben viele russische Landsleute seit Ende September das Land verlassen. Im Oktober und November sind Familienmitglieder zu einem Teil von ihnen ausgereist“, urteilt er.
Der Experte von „IVA Partners“ Artjom Kljukin bezweifelt, dass gerade der Faktor der Mobilmachung und die Ausreise eines Teils der Bevölkerung das Bild von den Verbraucheraktivitäten grundlegend verändern konnte. „Die Ursachen für den Rückgang des Umfangs des Einzelhandels hängen mit der generellen Unbestimmtheit der Situation im Land zusammen, die die Verbraucher zum Sparen veranlassen“, meint Kljukin.
Die Einzelhandelsumsätze würden sich vor allem aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Probleme, der angespannten politischen Situation und der Zukunftsängste verringern, fährt der Chefanalytiker der Investitionsfirma „TeleTrade“ Mark Goichman fort. „Seitens der Käufer verringert sich die Kaufkraft aufgrund der Reduzierung der Einkommen, des Ansteigens der Preise, des Übergangs des Konsumverhaltens zum Sparregime und der Versuche, Mittel für einen schwarzen Tag aufgrund der Unbestimmtheit und der Erwartungen hinsichtlich von Veränderungen zum Schlechten aufzusparen“, sagt er, wobei er annimmt, dass der Faktor der Mobilmachung und der Ausreise von Menschen aus dem Land gleichfalls ihre Rolle – aber in einem geringeren Maße – spielen würde. „Der Anteil der Mobilisierten und Ausgereisten an der gesamten Bevölkerungszahl ist kein so großer, um ein bestimmender Driver (Faktor) beim Rückgang der Einzelhandelsverkäufe zu sein“, meint der Analytiker.