Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Wird denn die Jahresbotschaft des Präsidenten gerade jetzt gebraucht?


Die Jahresbotschaft des Präsidenten an die Föderale Versammlung kann im Jahr 2022 auch nicht erfolgen. Dies melden Nachrichtenagenturen unter Berufung auf ihre – ungenannten – Quellen. Am Dienstag figurierte noch in den Medien der 27. Dezember als Datum des möglichen Auftritts von Wladimir Putin. Aber der Kreml-Pressedienst beeilte sich, diese Information zu dementieren.

Der Vorsitzende des Ausschusses des Föderationsrates (das Oberhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) für Verfassungsgesetzgebung und Staatsaufbau, Andrej Klischas (Kremlpartei „Einiges Russland“), erinnerte daran, dass die Modalitäten und Fristen für eine Verkündung der Jahresbotschaft im Grundgesetz in keiner Weise festgeschrieben worden sind. Das Staatsoberhaupt bestimme sie nach Aussagen des Senators selbständig.

Im Artikel 84 der Verfassung heißt es, dass der Präsident „sich an die Föderale Versammlung mit Jahresbotschaften über die Lage im Land sowie über die Hauptrichtungen der Innen- und Außenpolitik des Staates wendet“. Aber hier ist es schwierig, wie es nicht selten vorkommt, eindeutig zu interpretieren: Verpflichtet das Grundgesetz das Staatsoberhaupt, dies jedes Jahr zu tun oder stattet es ihn mit solchen Vollmachten aus, die man in einigen Situationen auch nicht nutzen kann?

Wie dem auch sein mag, man kann sagen, dass der Verlauf des gewohnten staatlich-rituellen Lebens bereits gestört worden ist. Gecancelt wurde die traditionelle große Pressekonferenz von Wladimir Putin, nicht abzusehen ist das mehrstündige Kommunizieren mit Bürgern im Fernsehen. Fraglich ist auch das Datum der Jahresbotschaft. Wenn man die Auffassung vertritt, dass diese alljährlichen Veranstaltungen und öffentlichen Auftritte obligatorische Teile des normalen Lebens des Staates sind, so ist eine gewisse Beunruhigung erklärbar: Verläuft alles so, wie es sein muss?

Das Jahr der militärischen Sonderoperation ist natürlich ein besonderes Jahr. Die Offiziellen unterstreichen ständig, dass alles „normal“ verläuft und verlief. Und der wohl kaum ursprüngliche Plan, was für einer er auch gewesen sein mag, ist stets umgesetzt worden und bedurfte keiner Korrektur. Beispielsweise kann man sich schwerlich vorstellen, dass sich die Führung des Landes im Februar-März auf eine Teilmobilmachung von Wehrpflichtigen bzw. Reservisten im Herbst vorbereitete. Vieles wird durch die Situation „am Boden“, durch die Leistungen, Misserfolge und Verluste bestimmt. Das, was sich rund um die Sonderoperation, in der äußeren Welt abspielt, ist umso mehr wenig voraussagbar. Das Gesamtbild hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Die russischen Offiziellen legen mitunter eine Pause ein, um richtig, wie ihnen scheint, auf die eine oder andere neue Herausforderung, auf die neuen Sanktionen zu reagieren.

Die Botschaft an die Föderale Versammlung ist ein programmatischer Auftritt. Gewöhnlich bestimmt der Präsident in ihr die Richtungen und die Ideologie für die Arbeit der staatlichen Strukturen für ein Jahr voraus. Die letzten Fälle zeigen, dass mitunter selbst eine sorgfältig durchdachte Botschaft nicht mit dem sozial-politischen, wirtschaftlichen und globalen Kontext harmonieren kann. Es genügt, sich des Januars des Jahres 2020 zu erinnern. Wladimir Putin wechselt die Regierung und gibt die Konturen für eine Verfassungsreform vor und setzt den Prozess für ein Referendum in Gang. Für das Land ist dies ein wichtiges Ereignis, auf dass sich die Offiziellen vorzubereiten und sie die Übrigen vorzubereiten beginnen. Aber einen Monat nach dem Auftritt von Präsident Putin erfasst den ganzen Planeten die Coronavirus-Pandemie, über die es in der Jahresbotschaft nicht ein einziges Wort gegeben hatte – und auch nicht geben konnte. Schließlich hat aber COVID sowohl das Leben der Menschen als auch die Arbeit aller Institute radikal beeinflusst.

Jetzt bleibt solch ein Faktor X, der auf unbekannte Art und Weise alles ringsherum beeinflusst, die militärische Sonderoperation, weiter gesehen – da, was sich rund um die Ukraine abspielt. Der Kontext ändert sich ständig. Und dies ist wohl kaum eine gute Zeit für jegliche programmatischen Auftritte. Putin könnte erzählen, wie er die Situation hier und jetzt sieht. Er kann aber nicht garantieren, dass sich die Umstände in einen Monat, in zwei, in einem halben Jahr nicht verändern werden.

Eine Jahresbotschaft vorzubereiten und zu verkünden, damit alle ruhig sind? Solch eine Motivation kann kaum funktionieren. Anlässe, sich nicht ruhig zu fühlen, gibt es gegenwärtig genug. Und die Einhaltung einst durchaus willkürlich festgelegter Rituale ändert im Großen und Ganzen nicht das Gesamtbild. Die Rituale kommen zurück, wenn die Voraussagbarkeit zurückkehrt.