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Ein Hauptergebnis des Jahres 2022 — die antirussische Front erstarkte


Der Konflikt Russlands und der Ukraine wurde auch für den Westen zu einer Herausforderung. Doch entgegen den Erwartungen, die es in der Russischen Föderation gegeben hatte (entweder aufgrund mangelhafter analytischer Fähigkeiten oder eigener Überheblichkeit – Anmerkung der Redaktion), hat er zumindest im Jahr 2022 nicht zu einem Auseinanderbrechen und zu Streitigkeiten im Lager der USA und ihrer Verbündeten geführt. Die zentrifugalen Tendenzen in der NATO und EU haben spürbar nachgelassen. Man kann sogar davon sprechen, dass beide Organisationen spürbar erstarkten, da die zu ihnen gehörenden Länder an deren Effektivität interessiert waren. Ja, aber die „Partei des Kompromisses“, die mit der einen oder anderen Form einer Aussöhnung mit der Russischen Föderation rechnet, hat, wenn sie nicht vollkommen verschwunden, so doch spürbar ihre Aktivitäten gedrosselt.

Die Reaktion des Westens auf die am 24. Februar 2022 begonnene russische Operation in der Ukraine unterscheidet sich frappierend von jener, die es im Jahr 2014 gegeben hatte. Nach dem Beitritt der Krim zu Russland waren beinahe symbolische Sanktionen verabschiedet worden, die einzelne Personen betrafen, den Handel mit der Halbinsel und dem Donbass sowie Lieferungen bestimmter Technologien. Sie hatten das sich herausgebildete System der Wirtschaftsbeziehungen der Russischen Föderation und des Westens nicht zerstörten, sie wurden gar nicht einmal zu einem Hindernis für neue großangelegte gemeinsame Projekte, solche wie der Bau der Gaspipeline „Nord Stream 2“.

Aber bereits die Anerkennung der Donbass-Republiken durch Moskau zog die Annahme solcher harten restriktiven Maßnahmen durch die USA, Großbritannien, Australien, Kanada, Japan und die Länder der Europäischen Union nach sich, die man sich früher schwerlich hätte gar vorstellen können. Unter anderem sind führende russische Banken unter die Sanktionen geraten, Operationen mit russischen Schuldverschreibungen der staatlichen Anleihe. Und die Black List derjenigen, die nicht in die EU einreisen dürfen, wurde durch höchste Staatsbeamte (inkl. Verteidigungsminister Sergej Schoigu) und 351 Abgeordnete der Staatsduma (des russischen Unterhauses – Anmerkung der Redaktion) erweitert. Schließlich trug Deutschland das auf eine Zertifizierung wartende Projekt „Nord Stream 2“ zu Grabe, in das Europa soviel Geld und Mittel gesteckt hatte.

Dieses Sanktionspaket erwies sich als das erste. Insgesamt hat die Europäische Union bis Ende des Jahres 2022 neun solcher geschnürt und verabschiedet. Die USA, die angelsächsischen Länder und Japan haben faktisch die Sanktionen der EU wiederholt, wobei sie mitunter eine „Solorolle“ spielten und jene Restriktionen verabschiedeten, die später Europa wiederholte. So war es beispielsweise mit der Einführung des Preisdeckels für russisches Erdöl. Als die härteste antirussische Sanktion hat sich das Festsetzen von Vermögen der russischen Zentralbank erwiesen. Als die beispielloseste – die Aufnahme von Wladimir Putin, Außenminister Sergej Lawrow und des Regierungsvorsitzenden Michail Mischustin in die EU-Black List.

Es beeindruckt die Solidarität der Handlungen der EU-Länder. Hinsichtlich der Frage nach den Sanktionen gibt es im Westen vom Wesen her nur einen „Dissidenten“ – Ungarn mit Premier Viktor Orbán, ja und es ist relativ. Beginnend ab 2021 trat die zuvor träge verlaufende Konfrontation von Viktor Orbán mit der Führung der Europäischen Union, der der halbautoritäre Führungsstil des ungarischen Regierungschefs offenkundig nicht gefällt, in ein aktives Stadium. Der Regierungsvorsitzende Ungarns fasste den Konflikt mit Russland, der eine Einheit des Westens verlangte, als eine Form auf, um für sich und sein Land die einen oder anderen Zugeständnisse von Brüssel auszuhandeln. Ungeachtet der häufig zweideutig erklingenden Rhetorik hinsichtlich der Ukraine und der Sanktionen hat Orbán nicht ein einziges Sanktionspaket blockiert. Er hat lediglich besondere Bedingungen für Ungarn in Bezug auf einige der sensibelsten Position ausgehandelt – in erster Linie hinsichtlich der Lieferungen russischer Energieträger. Während der Großteil der Europäischen Union insgesamt zustimmte, ohne russisches Erdöl und Erdgas auszukommen, so hatte es Orbán nicht riskiert, sein Elektorat zu verlieren. Dabei erwies sich der ungarische Premier als ein bereiter, den Wünschen Moskaus entgegenzukommen, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. So hatte Ungarn nicht angefangen, Waffen an die Ukraine zu liefern, und nur formal deren Transit über ungarisches Territorium untersagt. Verwundete ukrainische Militärs werden in ungarischen Gesundheitseinrichtungen behandelt, das Land nimmt ukrainische Flüchtlinge auf.

Die Waffenlieferungen und die finanzielle Hilfe für die Ukraine sowie die Einwanderung von Ukrainern haben den Westen auch nicht zerstritten (worauf man in Moskau wohl gehofft hatte und was im russischen Staatsfernsehen oft prophezeit wurde – Anmerkung der Redaktion). Die meisten der einstigen Freunde des Kremls, solche wie Marine Le Pen und der tschechische Präsident Miloš Zeman, haben die russischen Handlungen in der einen oder anderen Weise kategorisch verurteilt. Im zu Ende gegangenen Jahr haben im Westen mehrere bedeutsame Wahlkampagnen stattgefunden. In den USA erfolgten die Midterms (die Zwischenwahlen) zum Kongress, in Italien ist das Parlament neu gewählt worden, und es wurde eine neue rechte Regierung unter Führung von Giorgia Meloni gebildet. Dennoch haben weder der relative Erfolg der Republikaner, die die Mehrheit im Repräsentantenhaus errangen, noch der Sieg der Partei „Fratelli d’Italia“ nicht einmal zu einer Verringerung des Niveaus der antirussischen Rhetorik geführt.

Die Rolle eines Anführers, der für die Bewahrung der Kontakte mit Wladimir Putin verantwortlich ist, versucht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für sich einzuvernehmen. Aber auch er zieht die Notwendigkeit einer Unterstützung für die Ukraine nicht in Zweifel.

Zu einem markanten Ereignis, das die Bereitschaft des Westens belegte, aktiv und geschlossen Russland Paroli zu bieten, wurde der Sommer-Gipfel der NATO in Madrid. Dort wurde eine Vereinbarung über den Beitritt von Finnland und Schweden zur Allianz erzielt. Beide Länder, die in allen Jahren des Kalten Krieges eine Neutralität gewahrt hatten, sind bereit, die NATO-Nordflanke zu verstärken. Seit dem 24. Februar hat die Gesellschaft in Schweden und Finnland, die früher kategorisch für einen blockfreien Status beider Staaten eingetreten war, ihre Sympathien geändert. Russland wird dort als eine Bedrohung angesehen, vor der man sich schützen müsse. In den meisten Bündnisländern der USA hat man diese Position verstanden. Bis zum Dezember hatten den Vertrag über den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands nur Ungarn und die Türkei nicht ratifiziert, die die Erweiterung der Reihen der Allianz in gewohnter Form auffassten – als einen Anlass für ein Schachern in Bezug auf interessierende Fragen (für Ankara ist dies der Kampf gegen die separatistische Kurdenbewegung und gegen den Opponenten von Präsident Recep Tayyip Erdogan, den Prediger Fethullah Gülen).

Werden aber die Entschlossenheit und die Ressourcen des Westens für die Konfrontation mit Russland für lange ausreichen? Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass die antirussische Front bald auseinanderbrechen wird. Umso mehr da Europa und umso mehr Amerika nicht mit ernsthaften wirtschaftlichen Problemen konfrontiert wurden, die sich auf das Wohlergehen der meisten der Wähler auswirken (während im russischen Staatsfernsehen genau das Gegenteil vorgegaukelt wird – Anmerkung der Redaktion). Die Preise für Energieträger fallen, da es den EU-Ländern gelungen ist, vergleichsweise leicht die russischen Lieferungen zu ersetzen. Außerdem sind die Europäer — Umfrageergebnissen nach zu urteilen – bei weitem nicht durch den Konflikt der Russischen Föderation und der Ukraine müde geworden, obgleich es einen entsprechenden Trend in einer Reihe von Länder bestimmt gibt. Laut Ergebnissen einer soziologischen Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung, die am 1. Dezember 2022 veröffentlicht wurden, demonstriert die größte Unterstützung für die Ukraine Polen (76 Prozent), wo man bereit ist, mit allem, was möglich ist, zu helfen. In Italien aber plädierten für Waffenlieferungen an die Ukrainer im Herbst lediglich 36 Prozent. Dies ist der geringste Wert innerhalb der EU.