Am späten Vormittag des 5. Januar wurde auf der offiziellen Internetseite des Moskauer Patriarchats der Appell von Patriarch Kirill gepostet, eine Waffenruhe für das orthodoxe Weihnachtsfest im Gebiet der russischen militärischen Sonderoperation zu verkünden. Ganze vier Zeilen war der Text des russischen Kirchenoberhauptes lang, die jedoch widersprüchliche Reaktionen im In- und Ausland auslösten und Fragen in den Raum stellten, zumal sie Präsident Wladimir Putin nach weniger als sieben Stunden zum Anlass genommen hatte, Verteidigungsminister Sergej Schoigu den Auftrag zu erteile: Für 36 Stunden sollen die russischen Waffen in der Konfliktregion schweigen.
Der Berater des Leiters des ukrainischen Präsidenten-Office, Michail Podoljak, reagierte als erster offizieller Vertreter in Kiew auf den Appell. Ablehnend. Ungeachtet dessen entschloss sich Wladimir Putin, diese Idee zu unterstützen. In den frühen Abendstunden des Donnerstags wurde auf der offiziellen Internetseite des Kremls der zeitliche Rahmen für die Feuerpause im Interesse der Gläubigen auf beiden Seiten der Frontlinie verkündet. Seit 10.00 Uhr MEZ des 6. Januar ist eine Waffenruhe durch die russische Seite wirksam geworden, die nur Angriffshandlungen von ihr betreffe (laut Aussagen von Denis Puschilin, dem Oberhaupt der seit vergangenem Herbst zu Russland gehörenden Donezker Volksrepublik) und 36 Stunden gelten soll.
Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij, der in Moskau ständig als eine Marionette des kollektiven Westens dargestellt wird, reagierte mit Kritik auf Putins Ankündigung. Sie sei eine „Ausrede“, die das Ziel habe, „zumindest den Vormarsch unserer Truppen im Donbass zu stoppen sowie Ausrüstung und Munition zu bringen und Männer näher an unsere Stellungen heranzurücken“. Kiew hat sich damit freie Hand gelassen, neue Angriffe gegen die russischen Truppen zu führen. Und laut russischen offiziellen Informationen soll es die auch in den ersten Stunden der verkündeten Feuerpause gegeben haben. Aus der Donezker Volksrepublik wurde ein mehrmaliger Beschuss gemeldet, der visuell nicht eindeutig belegt wurde.
Kritik gab es im Übrigen auch aus Russland. Die sogenannte Community russischer Militärkorrespondenten kritisierte vor allem und mit klaren Worten: Sie plädiert für eine Fortsetzung der militärischen Sonderoperation bis zum siegreichen Ende, befürchtet, dass die russische Armee in den Stunden der erklärten Waffenruhe in Gefahr gerate, wenn die ukrainischen Truppen beschließen, das Feuer zu verstärken. Dabei wurden jedoch auch die Andeutungen vage formuliert, dass die Feuerpause zu einem Prolog für eine längere Waffenruhe und in der Perspektive auch für Friedensverhandlungen werden könne.
Dies ist jedoch Zukunftsmusik, die vorerst in weiter Ferne liegt. Untermauert wird dies durch die Reaktionen auch aus dem Ausland, die von den russischen Staatsmedien massiv kritisiert wurden. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte beispielsweise zu der Putin-Ankündigung: „Eine sogenannte Feuerpause bringt den Menschen, die unter russischer Besatzung in täglicher Angst leben, weder Freiheit noch Sicherheit“. „Ein paradoxes Statement“ — meinte man im russischen Staatsfernsehen „Rossia 24“ am Freitag, wobei diese Bewertung noch harmlos aussieht. Die aber wurde durch Russlands Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew, der heute sein Salär als stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates und Vizechef der militär-technischen Kommission Russlands sowie Vorsitzender des Organisationskomitees für die Gedenkveranstaltungen zum 80 Jahrestag des Endes der Stalingrader Schlacht (wird am 2. Februar begangen – Anmerkung der Redaktion) verdient, in den Schatten gestellt. Die Ukrainer hätten die von Russland ausgestreckte „Hand christlicher Nächstenliebe“ ausgeschlagen, auch weil der Westen den Weihnachtsfrieden nicht zugelassen habe. „Selbst das ungebildete Weib Baerbock und eine Reihe weiterer Aufseher im europäischen Schweinestall haben es geschafft, über die Unzulässigkeit einer Waffenruhe zu meckern“ schrieb Medwedjew im Messenger-Dienst Telegram.
Für Putin haben diese 36 Stunden noch einen Sinn: Sollte die ukrainische Armee in dieser Zeit weiterhin den Beschuss gegen russische Ziele fortsetzen, kann Moskau erklären, wer an einem Frieden auf dem leidgeprüften ukrainischen Boden wirklich interessiert sei und wer nicht. Freilich wird dabei ausgeklammert, dass Moskau nur unter bestimmten Vorbedingungen zu einem Friedensschluss bereit sei, was jedoch Kiew nicht akzeptiert. Letzteres ist nur zu Gesprächen bereit, wenn die russische Seite die „besetzten ukrainischen Gebiete“ räumt. Laut Kremlsprecher Dmitrij Peskow sei dies keine Verhandlungsgrundlage.
Bis 22.00 Uhr des 7. Januar (MEZ) werden die russischen Waffen weitestgehend schweigen. In der Bevölkerung des Landes wird allein schon diese Pause begrüßt und verstärkt die Hoffnungen – wenn auch schwachen -, dass der Konflikt vielleicht doch bald ein Ende haben wird. Übrigens will dabei gleichfalls Recep Tayyip Erdogan, der türkische Präsident, seinen spürbaren Beitrag leisten. Mit ein Grund dafür, dass er der westliche Politiker ist, der am intensivsten agiert, um den Dialogfaden zwischen dem Westen und Moskau nicht abreißen zu lassen. Sein Telefonat mit Amtskollegen Putin in den Morgenstunden des 5. Januars ist ein deutlicher Beleg dafür.