Der Außenminister der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, trat im Rahmen der Regierungsfragestunde in der Staatsduma (dem russischen Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) auf. Er berichtete unter anderem über die Hauptidee der neuen außenpolitischen Konzeption Russlands – eines Dokuments, dessen Vorbereitung Wladimir Putin im vergangenen Jahr in Auftrag gegeben hatte. In ihm werde laut Aussagen Lawrows der Kurs auf einen Kampf gegen die Versuche des Westens, ein Monopol für die Bestimmung der Regeln und des Rahmens für die internationale Politik zu schaffen, fixiert werden.
Der Auftritt des Ministers erfolgte gerade an dem Tag, an dem in Brüssel das Treffen der Verteidigungsminister der NATO-Länder, bei dem eine neue Konzeption für die militärische Planung der Allianz bestätigt worden war, beendet wurde. Sie gehe in erster Linie von den neuen Realitäten aus, die sich nach dem 24. Februar des letzten Jahres ergeben haben, wie die Teilnehmer des Treffens erklärten. Wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg konstatierte, „leben wir jetzt in einer gefährlicheren Welt“, die in erster Linie aufgrund des „aggressiven Verhaltens Russlands“ zu solch einer geworden ist. Ihm Paroli zu bieten, schickt sich auch die Allianz an. Dies ist für den Westen jetzt eine vorrangige Aufgabe, eine etwas wichtigere als der Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die Ambitionen Chinas.
Die russische Sichtweise auf die neuen Realitäten hat natürlich auch Lawrow dargelegt – sowohl im Verlauf der Regierungsfragestunde als auch beim Treffen mit Leitern der Büros ausländischer, in der Russischen Föderation akkreditierter Massenmedien am gleichen Tag.
In der Staatsduma unterstrich er, dass die Handlungen des Westens zum russisch-ukrainischen Konflikt geführt hätten. Schuld an ihm – so der fast 73jährige Minister – sei das Bestreben der westlichen Staaten, „Russland aufzuhalten“, darunter durch ein Heranrücken der NATO zu den Landesgrenzen. Lawrow verwendete den Ausdruck „Bruderland Ukraine“. Nach seinen Worten sei das Ziel der USA und deren Verbündeten eine Verwandlung des „Bruderlands Ukraine“ in ein russophobes militärisches Aufmarschgebiet“ gewesen. Solch einen Kurs hätte der Westen viele Jahre verfolgt, sagte der Minister. „In den letzten Jahren hat solch eine Linie Washingtons und der europäischen Satelliten den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück gibt“, sagte Lawrow. Er warf den „westlichen Kuratoren“ Kiews vor, dass sie die Ukraine zu einer gewaltsamen Lösung des Donbass-Problems veranlasst hätten.
Die Rede Lawrows verankert augenscheinlich endgültig die Rückkehr des Wortes „Neokolonialismus“ in die Lexik der Landesführung. Der Minister bezichtigte die USA und deren Verbündeten des Strebens, „eine neokoloniale unipolare Weltordnung wiederaufleben zu lassen“. Im Lichte der beiden jüngsten Afrika-Tourneen Lawrows seit Beginn dieses Jahres sieht das Aufgreifen solch einer Terminologie nicht überraschend aus. In Afrika ist die Rhetorik vom Kampf gegen den Neokolonialismus sowohl unter den einheimischen Politikern als auch in den Gesellschaften verständlich und populär.
Lawrow teilte mit, dass in der aktualisierten Konzeption für die Außenpolitik die Notwendigkeit festgeschrieben werde, den Westen in seinem Bestreben, sein Diktat in den internationalen Angelegenheiten aufzuzwingen, zu stoppen. Das heißt: Das, was in der gegenwärtigen Konzeption, die 2016 verabschiedet worden war, in recht sanften Formulierungen festgeschrieben wurde, man jetzt eindeutig und klar ausweisen wird. Einen Termin, wann das Dokument fertig sein wird, nannte Lawrow nicht. Wie Ende vergangenen Jahres der Leiter des Departments für außenpolitische Planung des Außenministeriums, Alexej Drobinin, gegenüber Journalisten mitteilte, könne die Arbeit an der Konzeption Anfang des Jahres 2023 abgeschlossen werden. Sie aber zu überarbeiten, hatte Putin bereits vor einem Jahr in Auftrag gegeben. Augenscheinlich haben sich die endgültigen Konturen dafür, wie die Außenpolitik des Landes in den nächsten fünf, sechs Jahren aussehen soll, im Kreml erst jetzt abgezeichnet.
Die praktischen Konsequenzen dieser neuen Erscheinungen und Wendungen tangieren unter anderem auch das Visa-Regime. Lawrow teilte mit, dass die Aufhebung der Restriktionen für die Erteilung elektronischer Visa die sogenannten unfreundlichen Länder nicht tangieren würden, die aufgehört haben, Russlands Bürgern entsprechend vereinfachter Modalitäten Visa auszustellen. „Gegenwärtig ist geplant, mit etwa elf Ländern vollkommen visafreie Reisen zu unterzeichnen, mit weiteren sechs, wenn ich mich nicht irre, einschließlich Indien und Indonesien – erleichterte Bedingungen, ganz einfache“, sagte Lawrow. Unter ihnen wird wahrscheinlich auch der Iran sein. Auf jeden Fall sagte der iranische Botschafter in der Russischen Föderation, Kazem Jalali, sagte der russischen staatlichen Nachrichtenagentur TASS, dass sein Land mit einem visafreien Regime mit Russland einverstanden sei und die Sache lediglich von der „Meinung der russischen Offiziellen“ abhänge.
Beim Treffen mit Vertretern ausländischer Massenmedien umriss Lawrow am Mittwoch ein neues Thema, dass die russische Diplomatie auf der Ebene internationaler Organisationen ansprechen wolle. Er unterstützte faktisch die Version des US-amerikanischen Journalisten Seymour Hersh. Dieser bekannte investigative Journalist, der in diesem Jahr 86 Jahre alt wird, hatte mitgeteilt, dass laut Angaben seiner Quellen die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 durch Taucher der US Navy gesprengt worden seien. Lawrow bezeichnete das Ausbleiben einer Antwort Schwedens und Dänemarks auf den russischen Vorschlag, eine Kontaktperson zu benennen, mit der man hinsichtlich der Havarie an den Pipelines, die Eigentum eines russischen Unternehmens sind, sprechen könnte, als eine Frechheit. Nach Aussagen des Ministers „offenbart diese Frechheit das komplette Scheitern der Versuche, die Verantwortung des kollektiven Westens unter Führung der Vereinigten Staaten für diesen Diversionsakt zu vertuschen“. Übrigens, vor Lawrow hätte Hersh in der Staatsduma auftauchen können. Ihm war der Vorschlag unterbreitet worden, vor den Abgeordneten aufzutreten. Er hatte es jedoch abgelehnt, wobei er mitteilte, dass er „sich mit Journalismus und nicht mit Politik befasst“.