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Warum es so schwer ist, in Russland die Fan-ID zu canceln


 

Russlands Präsident Wladimir Putin hat Ende März die Regierung und die Agentur für strategische Initiativen zur Umsetzung neuer Projekte beauftragt, bis 1. Mai Maßnahmen „zur Vereinfachung der Nutzung der Systeme zur Identifizierung von Fußball-Fans durch die Bürger, vor allem durch Invaliden, Rentner und Kinder“ zu ergreifen. Es geht um die Karte des Schlachtenbummlers, sie ist auch die Fan-ID, die seit diesem Jahr bei allen Spielen der Russischen Premierliga und beim Finale um den Russland-Cup gilt. (Alle anderen Sportveranstaltungen Russlands finden also weiterhin ohne eine Kontrolle der Zuschauer per elektronischer Identifikationssysteme statt. – Anmerkung der Redaktion)

Zuvor hatte der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates und Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew in einem Gespräch mit Journalisten das neue System für einen Zugang zu den Spielen der Premierliga kritisiert. „Wenn während der Weltmeisterschaft zumindest klar gewesen war, dass es um eine Gewährleistung der globalen Sicherheit geht, so erlangt dies jetzt völlig absurde Formen. Jüngst habe ich gelesen, dass man eine Familie nicht zu einem Fußballspiel gelassen hatte, weil das siebenjährige Kind keine Fan-ID hatte. Nun, hören Sie einmal, dies ist doch eine Verhöhnung! Da muss man zumindest die Regeln korrigieren“, erklärte der russische Ex-Präsident und Ex-Premier.

Nach der Zwangseinführung der Fan-ID bei allen Spielen der Russischen Premierliga wurden die Klubs mit katastrophal geringen Zuschauerzahlen konfrontiert. Bei einem der Spiele konnte man die Schlachtenbummler namentlich bestimmen, wenn es dazu den Wunsch gegeben hätte. Es waren gerade einmal 207 beim Spiel von Torpedo Moskau gegen Ural Jekaterinburg. Derweil hatte es sowohl bei der Begegnung von Russlands Nationalelf mit der Auswahl des Iraks als auch bei den Spielen der Ersten Liga und des Russland-Cups, und selbst beim Freundschaftsspiel von ZSKA Moskau gegen die Amateurmannschaft „DROTS“, die von Bloggern gebildet wurde, viel mehr Zuschauer gegeben. Dies ist nicht nur ein Schlag der Fan-Vereinigungen gegen das Ansehen des Staates, der stur die Meinung der Mehrheit der Fußball-Zuschauer ignorierte, sondern vor allem auch ein mächtiger wirtschaftlicher Schlag gegen die Profi-Klubs. Sie können nichts dagegen tun und sind gezwungen, das umstrittene Gesetz umzusetzen.

Es macht Sinn, darauf hinzuweisen, dass hinter vielen Fußballklubs einflussreiche Menschen stehen. Dies sind sowohl Gouverneure als auch Banker und Geschäftsleute, die ins Machtsystem integriert sind und den Menschen nahestehe, die Entscheidungen fällen. Aber selbst ihr Einfluss hatte nicht ausgereicht, um den Start des neuen Systems zu stoppen oder es rechtzeitig wesentlich zu korrigieren. Ein Teil der Fußball-Öffentlichkeit hofft darauf, dass eine Lockerung der Regeln bedeutet, dass die Russische Premierliga der Wirkung der Fan-IDs entzogen wird, das heißt, dass es zu einer Verwandlung des Systems in eine Formalität kommt. Die Anweisung Putins weist aber in keiner Weise darauf hin.

Für die russischen Herrschenden ist es schwer, von gefällten Entscheidungen abzugehen, selbst wenn sie allen das Leben schwer machen und keiner in der Lage ist, überzeugend ihren Nutzen zu erklären. Dies ist Teil der russischen politischen Kultur. Daher wird die Auffassung vertreten, dass es bedeute, Schwäche zu demonstrieren, wenn ein Fehler angesichts der Reaktion der Menschen korrigiert werden muss. Man kann sich aber natürlich auch an ein entgegengesetztes Beispiel erinnern, an den Verzicht auf eine überhastete Behandlung eines Gesetzes über QR-Codes im öffentlichen Nahverkehr in der Staatsduma (dem russischen Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) vor dem Hintergrund der COVID-Pandemie. Damals aber hatte man das Gesetz nur diskutiert, es noch nicht verabschiedet. Die Fan-IDs aber hat man schrittweise und zielgerichtet eingeführt.

Die Notwendigkeit eines Systems zur Identifizierung der Schlachtenbummler erklärten die Offiziellen mit Sicherheitserwägungen, wobei sie unter den Teppich kehrten, dass das entsprechende Gesetz nur sehr eingeschränkt wirken wird. In Russland klingt dies aber wie ein Mantra. Dessen Aussprechen sieht keine unnötigen Fragen vor. Jedoch müssen dennoch Fragen gestellt werden, wenn man die offenkundig unpopuläre Maßnahme, wobei sie eine Nische tangiert, den Besuch von Fußballspielen der Premierliga, nicht bloß nicht aufgreifen, sondern auch nicht canceln will. Und es kommt der Eindruck auf, dass es um etwas ganz Konkretes geht und nicht um ein allgemeines Begreifen von Sicherheit.

Die Einführung der Fan-IDs scheint sehr einer politischen Entscheidung zu ähneln. Und wahrscheinlich ist es daher so schwer, sie zu revidieren. Ein Fußballmatch ist eine der wenigen öffentlichen Veranstaltungen in Russland, zu dem sich Menschen organisiert, in großen Gruppen zusammenfinden, Performances veranstalten und etwas in Sprechchören zum Ausdruck bringen. Dies müssen sie nicht mit den Behörden abstimmen. Es genügt, eine Eintrittskarte zu erwerben. Wenn aber von den Fußball-Fans gesprochen wird, so mussten die Offiziellen bereits in dieses Milieu eintauchen, das gegenüber den sozial-politischen Realitäten recht sensibel und in seinen Reaktionen unvorhersehbar ist. Die Fan-ID kann ein Mittel zur Kontrolle von Schlachtenbummlern sein. Und es scheint, dass die Fans dies gespürt und bereits reagiert haben.