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Baku und Jerewan sind bereit, strategische Objekte ins Visier zu nehmen


Die relative Ruhe an der armenisch-aserbaidschanische Grenze ist am 16. Juli unterbrochen worden. Armenien bezichtigte Aserbaidschan des Beschusses von Grenzdörfern. Aserbaidschan antwortete mit einer analogen Erklärung. Jerewan wies diese Anschuldigung zurück, wobei es erklärte, dass es keine zivilen Objekte und Zivilisten beschieße. 

Schuschan Stepanian, Pressesekretärin des armenischen Verteidigungsministeriums, teilte mit, dass die armenischen Streitkräfte am 16. Juli einen Sabotageversuch der aserbaidschanischen Kräfte verhindert und dabei keine Verluste erlitten hätten. Danach hätte laut ihren Informationen die aserbaidschanische Artillerie das Feuer gegen die armenischen Dörfer Aigepar und Mowses des Kreises Tawusch eröffnet. Das Gefecht habe bis in die Mittagsstunde angedauert. „Die Streitkräfte Armeniens haben die Provokationen des Gegners neutralisiert“.

Armeniens Premierminister Nikol Paschinian teilte mit, dass lt. den erhaltenen Angaben an dem Überfall über 100 aserbaidschanische Militärs teilgenommen hätten. Und das Ziel sei die Einnahme einer wichtigen Höhe gewesen, die unter dem Namen „Furchtlose“ bekannt ist. „Die Situation befindet sich vollkommen unter Kontrolle. Unsererseits gibt es keine Verletzten, weder unter den Militärs noch unter der Zivilbevölkerung. Im Ergebnis des Beschusses der Dörfer Aigepar, Tschinari, Mowses und Nerkin Kramirachpjur in den letzten Tagen wurden die zivile Infrastruktur und Wohnhäuser geschädigt. Ich habe bereits die Anweisung erteilt, den Schaden zu schätzen“, erklärte Paschinian. Der Vertreter des armenischen Verteidigungsministeriums Arzrun Owannisian präzisierte, dass an dem Überfall die Spezialeinheit „Jaspis“ teilgenommen hätte. Und die Operation an sich sei mit dem Segen der höchsten Führung Aserbaidschans durchgeführt worden. Nach Aussagen von Owannisian habe der Pressedienst der aserbaidschanischen Streitkräfte die erlittenen Verluste eingestanden, bisher aber ohne eine Präzisierung der Opferzahl.

Die Mitteilungen der aserbaidschanischen Seite decken sich mit den armenischen, aber mit entgegengesetzten Akzenten, die scheinbar für das inländische Publikum bestimmt sind. Dessen Unzufriedenheit offenbart sich immer häufiger in spontanen Aktionen – mal für ein Zurückholen von Bergkarabach unter die Jurisdiktion von Baku, mal in zaghaften Protesten gegen die Herrschenden. Eine neue Explosion von Emotionen löste in der aserbaidschanischen Hauptstadt das Eintreffen von Leichen der Soldaten und Offiziere, die in diesen Tagen an der Grenze gefallen waren.

Allem Anschein nach müssen die aserbaidschanischen Offiziellen gleich an zwei Fronten agieren – an der militärischen und an der innenpolitischen. Stark aktiviert hat sich die Opposition, die bis zu den jüngsten Grenzzusammenstößen als eine hilflose erschien und keinerlei Gefahr für die Offiziellen darstellt. Laut Meldungen aserbaidschanischer Medien sind mehrere Dutzend Aktivisten bei in Baku stattgefundenen Meetings festgenommen worden. Verhaftet wurde der frühere Verteidigungsminister Rahim Gaziyev, der angeblich in den sozialen Netzwerken falsche Informationen über die Ereignisse an der Grenze veröffentlichte. Freilich muss auch angemerkt werden, dass sich bereits rund 7.000 Aserbaidschaner als Freiwillige beim Verteidigungsministerium angesichts der eskalierten Situation im Grenzgebiet gemeldet haben, was nach Meinung von Beobachtern belegt: Im Land bestehen ein Bedürfnis nach Lösung des Bergkarabach-Konfliktes und der Unmut darüber, dass die Offiziellen sinnlos Verhandlungen mit Jerewan führen würden und letztlich keinerlei konkreten Ergebnisse erreichen.

Die Auseinandersetzung an der Grenze weit von der Zone des Bergkarabach-Konfliktes entfernt, auch wenn sie nicht ganz voraussagbar aufgrund der Beziehungen Aserbaidschans und Armeniens war, so hat sie sich doch als eine recht überraschende erwiesen. Besonders unter Berücksichtigung der Heftigkeit und der Dauer der Kampfhandlungen. Und diese Überraschung wurde zur Ursache für das Aufkommen unterschiedlicher Versionen über die wahren Gründe für die Zuspitzung, darunter auch mit einem Anflug von Exotischem. Allerdings genießen allem nach zu urteilen all diese Versionen eine gewisse „Popularität“ sowohl in der aserbaidschanischen als auch in der armenischen Gesellschaft. Hier sind die gängigsten von ihnen. 

Den Konflikt brauchte sowohl Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev als auch Armeniens Premier Nikol Paschinian. Aliyev benötigte ihn, damit die Gesellschaft, in der immer stärker Unzufriedenheit zu spüren war, Dampf ablässt. Das Wichtigste aber, er musste irgendwie das Militärkommando, das seine Stärke gespürt hatte, in die Schranken weisen und in der Regierung eine gewisse personelle Säuberung vornehmen. So wurde unter anderem am Donnerstag der bisherige Außenminister Elmar Mamedyarov entlassen.
Bei Paschinian sind laut der Version die Gründe prosaischer: die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die äußeren Gefahren umswitchen und die Gesellschaft um die eigene Person und die revolutionäre Herrschaft zu scharen, da die Opposition begonnen hatte, die schwere epidemiologische Situation und mehrere Fehler der Herrschenden erfolgreich zu eigenen Gunsten auszunutzen. 

Laut einer anderen Version versucht Armenien, den ganzen Block der Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages (OKSV), deren Mitglied es ist, in seine Konfrontation mit Aserbaidschan hineinzuziehen. Diese „Theorie“ ist nicht makellos, da die OKSV in der Frage des armenisch-aserbaidschanischen Konfliktes stets recht passiv war und es derzeit keinerlei Gründe dafür gab, auf ihr Eingreifen zu hoffen. Mag auch die Konfrontation unmittelbar an der Grenze Armeniens geschehen. Ja, und die bevollmächtigten Mitglieder der Regierung Armeniens erklärten eins nach dem anderen, dass die Streitkräfte selbst mit allen gestellten Aufgaben fertig werden und keiner Hilfe der OKSV bedürfen würden.

Gemäß einer dritten Version seien außenstehende Akteure – Russland und die Türkei – an einer Eskalierung der Spannungen interessiert. Laut einer der „Unterversionen“ wolle Moskau angeblich den eigenwilligen und übermäßig unabhängigen Nikol Paschinian zurechtweisen. Entsprechend einer anderen versuche es (Moskau), Druck auf Baku auszuüben. Ein Beitritt Aserbaidschans zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) würde sich positiv auf das Image der Organisation auswirken und gleichzeitig der Allianz einen neuen Impuls verleihen. Und der voraussagbare Protest Armeniens bei einer Zustimmung Aserbaidschans zum Beitritt zur EAWU stelle schon kein so ernsthaftes Hindernis dar. Was aber das Interesse der Türkei angehe, so liege es in Syrien und Libyen. Und die armenisch-aserbaidschanische Zuspitzung versuche sie als ein Verbündeter Aserbaidschans im Handel mit Russland bezüglich der syrischen und libyschen Fragen auszunutzen.

Noch eine Version, die das regionale Internetmedium JAMnews (www.jam-news.net) nennt, betrifft die Widersprüche zwischen Russland und der Türkei in Sachen Erdgas. Das Portal veröffentlichte einen Kommentar des Experten Aik Gabrielian aus dem Armenischen Institut für Sicherheitsfragen und internationale Angelegenheiten. Seinen Worten zufolge seien die russischen Gaslieferungen in die Türkei um 40 Prozent zurückgegangen. Dagegen sollen bald die aserbaidschanischen Gaslieferungen in die Türkei und nach Europa durch die Pipeline Baku-Tbilissi-Ceyhan, die durch den Kreis Tovuz Aserbaidschans, der an den Kreis Tavusch Armeniens grenzt, zunehmen. Und gerade dort erfolgen auch die Auseinandersetzungen. Gabrielian vermutet, dass die Türkei versuchen werde, die Situation auszunutzen und in Aserbaidschan ihre Militärs zum Schutz der Gaspipeline vor russischen Provokationen zu stationieren.

Derweil hat die Intensität des Feuers im armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet etwas nachgelassen. Doch der Chef des Pressedienstes des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums, Oberst Vagif Dargyahly, warnte Jerewan vor der Möglichkeit eines punktuellen Raketenschlags gegen das armenische AKW, wenn die armenische Seite entscheide, Schläge gegen strategische Objekte Aserbaidschans zu führen. Armeniens Außenministerium verurteilte diese Androhung und wertete sie unter anderem als eine direkte Form von Staatsterrorismus und Verletzung des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konvention. Außerdem hat das armenische Verteidigungsministerium in einer seiner letzten Erklärungen den Veteranen des Bergkarabach-Krieges und Freiwilligen die Bildung von Einheiten verwehrt. Darin würde keine Notwendigkeit bestehen. Die Armee werde mit ihren Aufgaben fertig, heißt es aus dem Ministerium. Und Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev empfing inzwischen den neuen Chef des Außenministeriums Ceyhun Bayramov und erklärte, dass die Zeit des Imitierens von Verhandlungen mit Armenien vorbei sei. Sie müssten einen gegenstandsbezogenen Charakter tragen.