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Noch gibt es keine Staatsideologie in Russland, eine ideologische Zensur gibt es aber bereits


Der Vorsitzende des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen, Valerij Fadejew, hat dieser Tage in der Russischen staatlichen geisteswissenschaftlichen Universität, den neuen Studiengang für Studenten „Grundlagen der russischen Staatlichkeit“ erörtert, wobei er nicht umhinkam, das Thema der Ideologie zu tangieren. Schließlich verdächtigt man diesen Studiengang gerade des Versuchs einer gewissen staatlichen „Hirnwäsche“ für die junge Generation. Fadejew ging unter anderem auf einen der Fetische des antiliberalen Diskurses ein, auf das in Jekaterinburg beheimatete Jelzin-Zentrum. Nach seinen Worten „ist dies schärfer als der Kurzlehrgang zur Geschichte der Kommunistischen Allunionspartei der Bolschewiken“. „Besonders der Trickfilm am Anfang (der Exposition), in dem die ganze Geschichte Russlands als eintausend Jahre Sklaverei gezeigt wird. Und da taucht ein Herrscher auf, ganz in Weiß, und schenkt letztlich Freiheit… Alle übrigen Herrscher sind dort als dumme dargestellt worden“, konstatierte er. „Ja, es hatte Fehler gegeben. Man kann aber nicht alles in Schwarz darstellen. Ich bin gegen eine Schließung des Jelzin-Zentrums. Dort muss man aber die Ideologie korrigieren. So geht das nicht!“ (Damit reagierte Fadejew auf die zahlreichen massiven Attacken des bekannten russischen Filmregisseurs Nikita Michalkow gegen das Zentrum, der im Staatsfernsehen diesbezüglich kein Blatt vor den Mund nimmt. – Anmerkung der Redaktion).

Der neue Universitätsstudiengang veranlasse nach Aussagen Fadejews, „weit auf die Welt zu schauen, den Studenten die Augen zu öffnen: Die Welt ist eine schwierige, interessante und keine eindeutige. Auf einige Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten“. Dabei rief er gleichzeitig auf, „die Studenten aus der Umklammerung von „Meduza“ (in der Russischen Föderation als ein Massenmedium im Status eines ausländischen Agenten und als eine unerwünschte Organisation eingestuft – „NG“) und „Echo Moskaus“ (der Sendebetrieb des Hörfunksenders und dessen Internetseite sind per Entscheidung der Eigner vor geraumer Zeit eingestellt worden – Anmerkung der Redaktion) herauszuholen, aus der Gefangenschaft einer schmalspurigen und, wenn Sie wollen, blödsinnigen Ideologie zu befreien“. Aber auch nichts als Ersatz aufzuzwingen: „Vor einiger Zeit lag die Gesellschaft in ideologischen Fesseln. Und sie waren recht starke. Das Problem besteht darin, dass es bisher keine neue Ideologie gibt. Es gibt nur Entwürfe. Und dies ist eine riesige Arbeit. Ich spreche in keinem Fall davon, dass wir neue Fesseln brauchen“.

Fadejew wendet sich nicht das erste Mal ideologischen Fragen zu. Augenscheinlich bewegt wirklich dieses Thema einen der wichtigsten und den Offiziellen nahestehenden Intellektuellen. Interessant sind die Vorschläge, mit denen er auftritt. Allein in diesem Jahr hat er vorgeschlagen, Russophobie als eine Straftat zu qualifizieren, die Studiengänge für Gesellschaftskunde „von den westlichen Traditionen loszulösen“ sowie mit der Zeit „Wikipedia“ als ein westliches „ideologisches Produkt“ zu schließen. Ende Mai publizierte der Chef des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen einen Beitrag, in dem er scharf den nach seiner Meinung in Russland dominierenden „fremdländischen Liberalismus“ kritisierte. Er betonte aber, dass „es noch keine neue Ideologie gibt. Es wurde erst begonnen, sie zu schaffen“. Und für ihre Schaffung und Verwurzelung wird Zeit ins Land gehen. Und daher seien die Appelle, den Artikel 13 der Verfassung der Russischen Föderation über das Verbot einer staatlichen oder obligatorischen Ideologie verfrüht.

Darin besteht auch das bisher unlösbare Problem für die Konstrukteure einer neuen Staatsideologie Russlands. Sich auf einen recht breiten gesellschaftlichen Konsens stützend, erklären sie leicht, gegen wen und was man auftreten müsse. Dies könnten Russophobie, „nichtpatriotische“ historische Wertungen, das Propagieren nichttraditioneller Werte oder eine missachtende Haltung gegenüber der Religion sein. Media-Ressourcen, Kultur- und wissenschaftliche Zentren könnte man umfangreich als „prowestliche“, „antipatriotische und ideologisch schädliche markieren. Aber ein klares, die Mehrheit der Gesellschaft vereinigendes Programm zu formulieren, ein klares und allumfassendes System von Anschauungen darzulegen sowie ein Bild einer idealen oder zumindest erwünschten Zukunft zu offerieren, ist für sie recht schwierig. Möglich ist gar, dass dies bisher auch nicht sehr nötig ist.

Solch eine rein verteidigende, reaktive Vorgehensweise führt dazu, dass das Hauptinstrument der ideologischen Politik eine Zensur ist, die Verteidigung der Hirne vor „gefährlichen“ Erscheinungen und Einflüssen. Gefahren für die konstitutionelle Bestimmung über das Verbot einer Staatsideologie stellt eine solche Situation scheinbar bisher nicht dar, da es keine Staatsideologie an sich gibt. Eine andere Sache ist, inwieweit sie den Festlegungen der Verfassung über das Verbot einer Zensur und die Anerkennung einer ideologischen Vielfalt entspricht. So aber sind augenscheinlich die unumgänglichen Methoden des globalen Informationskrieges.