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Russlands jüdische Bevölkerung kann um 50 Prozent zurückgehen


Russlands jüdische Bevölkerung wird sich um 50 bis 60 Prozent verringern, wenn in den nächsten sieben Jahren das Auswanderungstempo unverändert bleibt. Derart sind die Angaben des Reports „Die jüdische Migration heute: Was kann dies für Europa bedeuten“, der vom israelischen Institut für Studien der jüdischen Politik (Institute for Jewish Policy Research — JPR) vorbereitet wurde (https://www.jpr.org.uk/reports/jewish-migration-today-what-it-may-mean-europe). Eine signifikante Zunahme der Repatriierung aus der Russischen Föderation konstatiert ebenfalls ein dieser Tage veröffentlichter Bericht der Jewish Agency for Israel (Sochnut).

Die Autoren der JPR-Untersuchung analysierten Angaben aus 15 Ländern, die etwa 94 Prozent der jüdischen Community Europas repräsentieren. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres belief sich die Zahl der neuen Einwohner Israels, die aus Russland gekommen waren, auf 22.851 Menschen, was um 32 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des vorangegangenen Jahres gewesen ist.

„Für die Zunahme der Repatriierung von Juden aus Russland gibt es nicht nur innere Ursachen, sondern auch äußere – der Machtantritt der rechten Koalition in Israel, die nach Meinung der Analytiker das Gesetz über die Rückkehr verschärfen und damit den Enkeln von Juden das Recht auf die israelische Staatsbürgerschaft nehmen kann“, erklärte der „NG“ der Präsident der Internationalen Stiftung der Bergjuden, German Sacharjajew. „Jedes Mal, wenn man in Israel von einer möglichen Änderung des Rückkehr-Gesetzes und eine Erschwerung der Repatriierungsbedingungen spricht, vergrößert dies den Strom der Repatrianten, die zu dieser Kategorie gehören. Und unter den Repatrianten aus Russland ist sie gerade eine zahlreiche aufgrund der seit langem erfolgenden Assimilierungsprozesse und der großen Anzahl von Mischehen“.

Es sei daran erinnert, dass derzeit neben der rechtszentristischen Partei „Likud“ sowohl die ultrarechten Blöcke Otzma Jehudit („Jüdische Stärke“) und „HaTzionut HaDatit“ („Der Religiöse Zionismus“) als auch ultrareligiöse Organisationen von der Art der Schas und „Jahadut HaTorah“ („Vereinigtes Thora-Judentum“ der Regierungskoalition von Benjamin Netanyahu angehören. Die religiösen Politiker sind davon überzeugt, dass die aus Russland und der Ukraine kommenden Aussiedler wenig mit den Traditionen des Judaismus vertraut seien. Und in der Tat, in vielen Vierteln großer israelischer Städte kann man schon visuell eine demonstrative Missachtung der Vorschriften des Judaismus beobachten. Die keine jüdischen Wurzeln besitzenden neuen Bürger füllen die Reihen der antiklerikal eingestellten Gegner der Regierungskoalition auf.

„Zu einer Antwort der jüdischen Organisationen der Russischen Föderation auf die Zunahme der Repatriierung sollen sowohl die Schaffung neuer Objekte der jüdischen Infrastruktur in Russland als auch das Starten neuer Gemeindeprogramme: karitativer, Bildungs- und Kulturprogramme – werden“, meint Sacharjajew. „Wir alle zusammen müssen die Aufmerksamkeit, die Fürsorge und die Unterstützung hinsichtlich der Gemeindemitglieder verstärken, die als Juden weiterhin ihr Schicksal mit Russland verknüpfen. Dies wird ihnen erlauben, sich hier sicherer zu fühlen, als diejenigen, die das Land verlassen haben (nicht nur gen Israel, sondern auch gen andere Länder) und die bisher sich dort nicht realisieren konnten. Dies wird zu einem zusätzlichen Anlass, um hierher zurückzukehren, wenn sie möchten“.

Ca. 70.000 Menschen, die im Jahr 2022 nach Israel ausgewandert waren, werden mit unüberwindlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Die Ausstellung der Dokumente nimmt viele Monate in Anspruch. Und ohne den Erhalt der Staatsbürgerschaft ist es unmöglich, einen Job bei den schnell dahinschmelzenden Reserven an Devisen in Bargeldform, die aus Russland mitgebracht wurden, zu bekommen. Ein gewaltiges Problem stellt das Erlernen von Hebräisch dar. In den Warteschlangen für Sprachlehrgänge muss man bis zu einem halben Jahr warten. Ja, und nach deren Abschluss ist der Grad der Sprachbeherrschung ein äußerst geringer, was nicht erlaubt, sich frei mit Einheimischen und Beamten zu unterhalten. Der Arbeitsmarkt kann den Neuankömmlingen, selbst mit einer Hochschulbildung und wissenschaftlichen Graden Arbeit mit einer geringen Qualifikation anbieten. Es ist beinahe unmöglich, Wohnraum aufgrund der Tatsache zu kaufen, dass die israelischen Banken Geldüberweisungen aus der Russischen Föderation ablehnen.

„Außerdem werden wir nicht vergessen, dass in Russland weiterhin hunderttausende Menschen jüdischer Herkunft leben und nicht dar4an denken, irgendwohin auszureisen. Die meisten von ihnen sind leider bisher in keiner Weise mit der Arbeit der jüdischen Gemeinden verbunden. Und man kann sagen, dass sie ihre Wurzeln vergessen haben“, erinnert Sacharjajew. „Die Einbeziehung solcher Menschen in die Gemeinde, ihr Bekanntmachen mit der Kultur und dem Glauben der Vorfahren – darunter mit Hilfe der Schaffung neuer jüdischer Objekte und neuer Gemeindeprogramme – ist eine überaus wichtige Aufgabe der russischen jüdischen Organisationen“. „Wenn man über die Gemeinde der Bergjuden spricht, so sehen wir beispielsweise in Moskau nicht nur keinerlei Exodus des Publikums, sondern im Gegenteil: Viele beklagen, dass es in der Nähe von ihnen keinerlei Gemeinden gibt und sie weit fahren müssten. Es hat sich historisch ergeben, dass die Bergjuden-Gemeinden vor allem in den östlichen Stadtvierteln wirken. Viele Bergjuden lassen sich aber im Neuen Moskau nieder, das heißt im Südwesten. Und da muss man ebenfalls eine Gemeinde-Infrastruktur schaffen“, sagte der Leiter der Stiftung.

Es sei betont, dass gegenwärtig der Gerichtsprozess zur von Russlands Justizministerium und Generalstaatsanwaltschaft angestrebten Liquidierung von Sochnut andauert, obgleich die Behandlung des Falls für unbestimmte Zeit vertagt wurde. Die Angriffe auf diese Organisation machen aber vielen russischen Juden Angst und Bange. Und derartige Exzesse fördern eine Ausreise der Menschen, selbst ungeachtet der anzunehmenden Schlamperei der israelischen Beamten.

Laut Angaben der Bevölkerungszählung, die im Jahr 2021 erfolgte, hatten sich 82.644 Menschen als Juden bezeichnet. Die nationalen Organisationen halten diese Angaben jedoch für Daten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Laut einigen Berechnungen erreicht die Zahl der Bürger Russlands, die eine jüdische Herkunft besitzen, eine Million Menschen und gar mehr.