Ein Stadtbezirksgericht hat entschieden, den spektakulären Prozess aufgrund massenhafter Folterungen und Vergewaltigungen gegenüber Irkutsker Strafgefangenen vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Die Betroffenen bestehen auf eine öffentliche Behandlung des Falls, wobei sie damit rechnen, dass dank einer großen Publizität die Schuldigen um keine Haftung herumkommen und dass die für sie festgelegten Strafen zu beispielgebenden werden. Menschenrechtler sind auch empört, wobei sie erklären, dass der geschlossene Charakter von Prozessen komfortable Bedingungen schaffen würden, um „richtige“ Urteile zu fällen und die Verbrecher einer Haftung zu entziehen.
Das Kuibyschew-Stadtbezirksgericht von Irkutsk hat entschieden, den Prozess gegen Ex-Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug, die Folterungen von Häftlingen zugelassen hatten, hinter verschlossenen Türen fortzusetzen. Erklärt wird dies vor allem mit den Interessen der Betroffenen, sprich: der Opfer, da es um sexuelle Gewalt gegen sie gehe.
Es sei daran, dass über 20 Opfer hinsichtlich dieses Strafverfahrens Teilnehmer einer großen Meuterei sind, die sich im Jahr 2020 im Angarsker Straflager Nr. 15 ereignet hatte. Nach dem Zwischenfall verlegte man die Häftlinge in die U-Haftanstalt-1 von Irkutsk, wo sich im Verlauf einer langen Zeit sogenannte „Entwickler“ – Strafgefangene, die Aufgaben der Leitung der Haftanstalt erfüllten — vergangen hatten.
Die Opfer bestanden auf eine Publizität der gerichtlichen Untersuchungen, da sie befürchten, dass man hinter verschlossenen Türen den Fall im Sande verlaufen lassen werde. Und die Organisatoren der Folterungen würden einer realen Haftung entgehen. Den Angeklagten wird eine „Überschreitung der dienstlichen Vollmachten, die sehr schwere Folgen nach sich gezogen hat“, angelastet. Die jedoch bestehen auf eine gewöhnliche Nachlässigkeit. Man hätte die eingelieferten Gefangenen nur zufällig in Zellen zu Sadisten gesteckt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass alles mit Bewährungsstrafen enden kann.
Dr. sc. jur. Ilja Schablinskij, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe (die per Gerichtsbeschluss in der Russischen Föderation liquidiert wurde), erläuterte der „NG“, dass Gerichtsverhandlungen entsprechend der Gesetzgebung der Russischen Föderation tatsächlich zu geschlossenen erklärt werden könnten, wenn es in dem jeweiligen Fall Episoden gibt, die mit sexueller Gewalt verbunden sind. Das Gesetz sei aber dazu berufen, erinnerte der Menschenrechtler, die Rechte der Opfer von Verbrechen zu verteidigen. Und hier bestehen sie selbst auf einen offenen Charakter. „Wenn es um Mitarbeiter der Verwaltung geht, die diese Quälereien zugelassen oder gar organisiert haben, so ist meines Erachtens hier im Gegenteil eine maximale Glasnost (Offenheit) nötig“, sagte Schablinskij. Die Richter lassen sich, meint er, von den Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane gängeln. Die brauchen keine Öffentlichkeit. „Die ist eine düstere Seite des russischen Gefängnislebens: Die (Gefängnis-) Verwaltungen nutzen oft Leistungen von Sadisten, um auf bestimmte Kategorien der Verurteilten Druck auszuüben. Gerade dieses Problem sollte der Prozess aufdecken. Aber die Richter sowie die Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane sind nicht daran interessiert“, resümierte der „NG“-Gesprächspartner.
Ja, und das Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen, Alexander Brod, ist ebenfalls davon überzeugt, dass diese Geschichte dem System der Rechtsprechung in Russland keine Pluspunkte bescheren werde. Und sie erlaube, weiterhin an der Unparteilichkeit der Gerichte zu zweifeln. Das Bestreben, den Prozess im Verwaltungsgebiet Irkutsk zu einer Verschlusssache zu machen und zu bürokratisieren sowie in die Länge zu ziehen, lasse nach Aussagen von Brod den Gedanken aufkommen, dass das Gericht die Vertreter des Strafvollzugs, die in die Quälereien involviert sind, einer Haftung entziehen wolle. „Das Gericht verweist auf den besonderen sexuellen Charakter der Verbrechen. Dabei sind die Opfer der Gewalt zu einem offenen Charakter der Untersuchungen bereit, wobei sie der Annahme sind, dass das Urteil gegen die Sadisten neue derartige Greueltaten stoppen werde. Bisher gibt es keine solche Hoffnung“, beklagte der Menschenrechtler. Er plant, sich aus diesem Anlass an den Apparat der Menschenrechtsbeauftragten Russlands zu wenden. Und es mache unbedingt Sinn, sagte Brod über das Geschehene, die Leitung des Obersten Gerichts und den Rat der Richter zu informieren. Notwendig sei auch eine Beschwerde an das Qualifikationskollegium der Richter des Verwaltungsgebietes Irkutsk. Übrigens, die Vorsitzende des Kollegiums hatte Ende letzten Jahres über eine Zunahme der Beschwerden in Bezug auf Richter der Region berichtet. In den Beschwerden seien Argumente im Zusammenhang mit Verstößen gegen Prozessnormen, mit bürokratischen Behinderungen sowie einem nichtethischen Verhalten von Richtern gegenüber Prozessteilnehmern und selbst über Anzeichen korruptionsbedingter Rechtsverstöße angeführt worden. Freilich, im Ergebnis von Überprüfungen hatten sich im vergangenen Jahr von 1000 Beschwerden lediglich zehn Prozent bestätigt. „Die von einer derartigen, zum Himmel schreienden Praxis, Verfahren zu Verschlusssachen zu machen, inspirierten Gerichte anderer Regionen werden ebenfalls derartige Strafsachen ausbremsen“, befürchtet der Menschenrechtler.
Iwan Melnikow, Vizepräsident der russischen Filiale des Internationalen Komitees für die Verteidigung der Menschenrechte, ist der Auffassung, dass ein Ausschluss der Öffentlichkeit von spektakulären und bedeutsamen Gerichtsprozessen eine offenkundige Verletzung des Prinzips der Offenheit sei, da wichtig sei, dass alle Seiten – sowohl die Betroffenen als auch die Angeklagten – die Möglichkeit haben, ihre Position öffentlich darzulegen. Dies könne die Menschen vor widerrechtlichen Handlungen schützen und alle Details der jeweiligen Straftat aufdecken. „Wenn man über Strafsachen über Folterungen spricht, so ist dies besonders wichtig. Schließlich befindet sich ein Teil der Bürger immer noch hinter Gittern. Und für sie ist es wichtig, öffentlich zu berichten, wenn Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug auf sie Druck ausüben“, sagte der Gesprächspartner der „NG“. Nach seinen Worten sei es wichtig, alle Umstände aufzudecken: Wer sind die Benefiziare von Folterungen? Für wenn hat man Aussagen herausgeprügelt? Wer hat Geld erpresst? Hat man es mit der (Gefängnis-) Verwaltung geteilt? „In vielen anderen Straflagern und U-Haftanstalten herrscht derzeit eine ähnliche Situation“. Und es sei wichtig zu verstehen, worauf man in analogen Fällen die Aufmerksamkeit lenken sollte.
Leider sei nach Auffassung von Melnikow gegenwärtig die öffentliche Kontrolle praktisch vollkommen in den Händen von Mitarbeitern des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug konzentriert (was bereits mehrfach von Kennern der Situation scharf kritisiert wurde, während im Kreml davor die Augen verschlossen werden – Anmerkung der Redaktion). Aufgrund von Folterungen ergehen gegen einige Mitarbeiter Bewährungsstrafen, oder es werden geringe Haftstrafen festgelegt. Da Russland das Europäische Gericht für Menschenrechte verlassen hat, zahle man keine adäquaten Kompensationen für die Folterungen. Und Alternative gibt es bisher keine. „Selbst in den Moskauer U-Haftanstalten beklagen sich jetzt mehrere Inhaftierte, dass man sie schlage und Geld von ihnen erpresse. Was soll man da erst über die Regionen sagen?! … Ich fürchte, dass es nur schlechter wird, wenn man nicht die Haltung einer Reihe von Machtorganen gegenüber Folterungen ändert“, sagte der „NG“-Gesprächspartner.
Nach seiner Meinung rede man in der letzten Zeit wenig über das Problem der Folterungen. Und es entstehe die Illusion, dass sie weniger geworden seien. „Tatsächlich nimmt die Anzahl der Beschwerden aus den Gefängnissen an den Apparat der Menschenrechtsbeauftragten von Jahr zu Jahr um mehrere hundert Prozent zu. Im vergangenen Jahr beispielsweise um mehr als 200 Prozent. Und die Anzahl der Meutereien hat in den letzten Jahren zugenommen“, berichtete der Menschenrechtler.
Wie Sergej Paschin, föderaler Richter im Ruhestand, der „NG“ erläuterte, sei der Richter, wenn es um die intime Seite des Lebens oder den Schutz der öffentlichen Moral gehe, berechtigt, eine Verhandlung zu einer geschlossenen zu erklären. Und er sei nicht verpflichtet, die Meinung der Opfer zu berücksichtigen. Formell seien die Handlungen des Irkutsker Gerichts legitim. Der Richter konnte den Prozess als einen offenen lassen. Jedoch „hatte er es nicht gewollt, die aus irgendwelchen eigenen Erwägungen zu tun“. Üblicherweise tue man dies so, um nicht die Rechtsschutzorgane zu kompromittieren und nicht deren Agenten preiszugeben, merkte der Experte an. Paschin nimmt an, dass sich die Situation mit den Folterungen im russischen Strafvollzug verschlimmern könne. Nach wie vor seien institutionelle Planvorgaben aktuell. Von den Mitarbeitern fordere man, dass sie Strafsachen zusammenschustern. Dafür würden aber Geständnisse gebraucht, die oft aus den Inhaftierten herausgeprügelt werden müssten. Dabei gebe es eine Tendenz: Bei anderen gleichen Bedingungen sind die Urteile, die gegen Rechtsschützer gefällt werden, im Vergleich zu jenen weitaus milder, die gewöhnliche Bürger erhalten. Daher findet das System auch Gründe für ein Geheimhalten im eigenen Interesse. Es wird die Auffassung vertreten, dass es für die Richter und Staatsanwälte psychologisch schwieriger sei, offen, vor aller Augen Gesetzlosigkeit walten zu lassen und die Prozessnormen zu missachten.