Im September erreicht die 20. deutsche Legislatur ihre Halbzeit. Und die russisch-deutschen Beziehungen, was nicht ausgeschlossen ist, ihre neue Talsohle.
Den früheren Botschafter in der Russischen Föderation, Géza Andreas von Geyr, hat im August der Berufspolitiker Alexander Graf Lambsdorff abgelöst, der mit der bekannten Familie von Ostsee- bzw. Baltendeutschen in Verbindung steht, deren Vertreter eine wichtige Rolle in der Geschichte sowohl des Russischen Imperiums (Graf Wladimir Nikolajewitsch Lambsdorff war Außenminister der Zarenregierung von 1900 bis 1906) als auch der Bundesrepublik (Graf Otto Lambsdorff war Bundeswirtschaftsminister von 1977 bis 1984 und FDP-Vorsitzender von 1988 bis 1993) gespielt haben.
Der neue Botschafter war stets gegenüber Russland als Haupterbe der UdSSR kritisch eingestellt. Nach dem Februar des vergangenen Jahres wurde er zusammen mit Kollegen der FDP (de facto unter Führung der Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Verteidigungsfragen Marie-Agnes Strack-Zimmermann) zu einem der auffälligsten Gegner der Kreml-Politik. Es macht wohl kaum Sinn zu erwarten, dass der Beginn seiner Tätigkeit (in Moskau) von einer konstruktiven Note begleitet wird, oder darauf zu hoffen, dass man in seinem Gepäck gewisse positive Botschaften von der Chefin des Auswärtigen Amts und dem Leiter des Bundeskanzleramts finden kann. Da gibt es eher klare Anweisungen zur Beibehaltung einer harten kritischen Position, die der Linie des kollektiven Westens entspricht und durch den Vektor des Konflikts um die Ukraine bestimmt wird.
Gerade diese Vorgehensweise bestimmt heute die russisch-deutschen Beziehungen. Berlin trat als erste unter den europäischen Hauptstädten als Initiator für deren beispiellose Verschlechterung auf. In ausnahmslos allen Bereichen sind die bilateralen Projekte mit einer Beteiligung föderaler Institutionen und Einrichtungen der Bundesländer auf Eis gelegt worden. Mit einer aktiven Unterstützung von Kanzler Olaf Scholz, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck hat die EUseit März des Jahres 2022 bis Einschließlich Februar dieses Jahres elf Sanktionspakete gegen Russland geschnürt und in Kraft gesetzt. Außerdem hat Deutschland einige nationale Restriktionen organisiert und wurde zum Hauptsponsor Kiews unter den EU-Staaten – inklusive einer finanziellen und humanitären Hilfe, aber auch von Lieferungen unterschiedlicher Arten von Waffen.
Während im Verlauf des Jahres 2022 ein Arbeitsdialog auf der Ebene des Präsidenten der Russischen Föderation und des Bundeskanzlers ungeachtet der Konfrontation bewahrt wurde, ist er seit dem vergangenen Winter eingestellt worden. Auf Initiative des deutschen Auswärtigen Amtes (auf der Grundlage von Informationen des Innenministeriums über Spionageaktivitäten) wurden im April russische Diplomaten ausgewiesen (vor einem Jahr erfolgte solch eine Ausweisung im Rahmen einer gemeinsamen Aktion der europäischen Staaten). Moskau antwortete symmetrisch, wobei es dem eine Schließung der deutschen Konsulate in Kaliningrad, Jekaterinburg und Nowosibirsk hinzufügte. Berlin reagierte mit einem Entzug der Lizenzen für die analogen Einrichtungen der Russischen Föderation in Hamburg, Frankfurt-am-Main, Leipzig und München. Zu Beginn dieses Jahres wurden neue Hindernisse für eine normale Arbeit des Russischen Hauses der Wissenschaft und Kultur in der Berliner Friedrichstraße aufgetürmt. Zu einer Antwort darauf wurden eine Reihe von Restriktionen in Bezug auf das Goethe-Institut in Russland.
Die Anzahl der Diplomaten und Mitarbeiter deutscher Organisationen auf dem Territorium der Russischen Föderation ist nunmehr eingeschränkt worden. Sie beläuft sich auf 350 Personen. Analoge Angaben hinsichtlich des russischen Personals in der BRD liegen nicht vor. Berlin hat im Februar eine neue Kampagne zur Bekämpfung russischer Spione entfaltet, die es — den regelmäßigen Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz nach zu urteilen – „in jeder Ecke Deutschlands“ gebe. Jedoch gelingt es den deutschen Gegenaufklärern nicht sehr, sie zu fassen und zu enttarnen. Es geht dabei vor allem um „vermutliche Spione“, die nach ihrer Meinung die meisten Diplomaten seien. Die Festnahmen verdächtiger deutscher Bürger lösen mehr Fragen aus. So wurde im August die Festnahme eines Mitarbeiters des Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr umfangreich diskutiert, der auf eigene Initiative hin mit Moskau arbeiten wollte. Unklar ist aber, inwieweit dies letzteres wollte.
Das offizielle Berlin hatte bereits im Frühjahr des vergangenen Jahres die Aufgabe gestellt, aktiv eine Institutionalisierung der russischen politischen Opposition in Deutschland zu fördern. Über das Auswärtige Amt der Bundesrepublik sind dafür wesentliche Mittel bereitgestellt worden. Für diese Arbeit wurden parteipolitische Stiftungen gewonnen, die öffentliche Veranstaltungen und Maßnahmen unter Verwendung interaktiver Methoden organisieren. Die Anzahl politischer Einwanderer aus Russland ist eine minimale. In die Bundesrepublik wollen vor allem die Bürger Russlands ausreisen, die nicht zum Wehrdienst einberufen werden wollen. Aber Berlin hat für sie wenig Verständnis, wobei solchen Antragstellern erklärt wird, dass „zu dienen eine heilige Pflicht und kein Anlass für den Erhalt eines Visums oder von Asyl ist“.
Allem Anschein nach haben die in die BRD ausgereisten Bürger Russlands bisher keine besonderen Erfolge bei der Organisierung einer effektiven oppositionellen Tätigkeit. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass der neue Botschafter dieser Arbeitsrichtung – den Kontakten mit dem kritisch eingestellten Teil der einheimischen Zivilgesellschaft – besondere Aufmerksamkeit widmen wird. Für die Gestaltung eines ganzheitlichen und objektiven Bildes der sich in Russland vollziehenden Prozesse sind aber Treffen und Diskussionen mit all ihren Vertretern erforderlich, selbst wenn sich ihre Positionen und Meinungen wesentlich vom deutschen Mainstream unterscheiden. Zumal im Unterschied zur russischen Botschaft in Berlin die deutschen Diplomaten (in Russland) über wesentlich komfortablere Bedingungen für ihre Arbeit inklusive Möglichkeiten für Kontakte haben.
Unter diesen nicht einfachen Bedingungen setzt das Deutsch-Russische Forum, das zu Beginn des Jahres sein 30jähriges Bestehen beging, die Arbeit fort. Mit Unterstützung seiner Mitglieder ist die unabhängige Diskussionsplattform „Bismarck-Dialog“ geschaffen worden (einer der Organisatoren ist der Urenkel des ersten Kanzlers des Deutschen Reichs, Alexander von Bismarck). Die im November letzten Jahres von einstigen deutschen Partnern des „Petersburger Dialogs“ verbreiteten Gerüchte über seinen Tod haben sich als übertriebene erwiesen. Dank den russischen Teilnehmern wird die Tätigkeit von Arbeitsgruppen beibehalten. An ihren Tagungen nehmen auch interessierte deutsche Experten teil. Aktivitäten demonstriert die Organisation „Russland-Deutschland“ (der Rechtsnachfolger der 1972 gegründeten Freundschaftsgesellschaft „UdSSR-BRD“, das heißt, des Westteils der heutigen Bundesrepublik). Eine ihrer Arbeitsrichtungen ist die Wiederherstellung regionaler Partnerschaften und der Zusammenarbeit von Jugendlichen beider Länder. Ihre Arbeit wird aber seitens führender Massenmedien Deutschlands torpediert und löst Unbehagen des Auswärtigen Amts und anderer mit ihm zusammenwirkender offizieller Strukturen aus.
Ein Bereich, wo noch „Leben existiert“, ist der Sektor der Außenwirtschaft – der Handel und Investitionen. Oder es ist wohl besser zu sagen, das, was von ihnen unter den Bedingungen der gegenseitigen Restriktionen geblieben ist. Der Umfang der monatlichen Ex- und Importoperationen betrug in den Jahren 2021-2022 vier bis fünf Milliarden Euro und ist im laufenden Jahr bis auf etwa eine Milliarde Euro mit einem positiven Saldo zugunsten der Bundesrepublik eingebrochen. Nach Deutschland gelangen minimale Mengen an Gas und einer Reihe anderer Rohstoffe. Nach Russland – vor allem Waren für medizinische Zwecke und Nahrungsmittel. (Bemerkenswert ist, dass im laufenden Jahr die Lieferungen deutschen Bieres nach Russland spürbar zugenommen haben.)
Das russische Business in Deutschland befindet sich am Rande eines Überlebens. Die deutschen Behörden beschlagnahmen aufgespürten Besitz russischer Geschäftsleute, nötigen die russischen Konzerne, die Arbeit ihrer Tochterstrukturen in der BRD einzustellen. Die Vermögen von GAZPROM im Umfang von mehreren Milliarden Euro wurden im Herbst des letzten Jahres ohne irgendeine Kompensierung nationalisiert. Die Vneshtorgbank ist gezwungen, die Arbeit in Frankfurt-am-Main einzustellen. Eine der wenigen organisierten Interessensgruppen, die die Arbeit fortsetzt und ihren Mitgliedern Unterstützung leistet, ist die Deutsch-Russische Wirtschaftsallianz e. V., die es im Unterschied zu den meisten anderen derartigen Vereinigungen in der Bundesrepublik ablehnt, den Namen und die Arbeitsrichtungen zu ändern.
Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft hat Russland aus der Liste seiner wirtschaftlichen Prioritäten gestrichen, konzentrierte sich auf die Einhaltung des Regimes der Sanktionspakete und verlegte das Schwergewicht seiner Tätigkeit von der Russischen Föderation in die postsowjetischen Republiken des Kaukasus und Mittelasiens. Anfang Januar dieses Jahres, im Vorfeld der Verhängung sekundärer Sanktionen, wurde eine Taskforce für die Umsetzung der Sanktionen gegen Russland etabliert, die dem Hauptzollamt untersteht. Das Bundesjustizministerium wurde zu einem der Initiatoren der Einführung einer strafrechtlichen Haftung für den Verstoß gegen das Sanktionsregime. Das Europa-Parlament hat in diesem Sommer diese Novität gebilligt.
Ihre Tätigkeit in der Russischen Föderation setzt die Deutsch-Russische Außenhandelskammer fort. Die großen Konzerne waren in Vielem unter dem Druck der öffentlichen Meinung gezwungen gewesen, Russland zu verlassen. Das Rückgrat des deutschen Business – der nach wie vor größten Unternehmenscommunity in der Russischen Föderation – arbeitet weiter auf den Märkten Russlands, und dies ungeachtet der offensichtlichen Schwierigkeiten (des Drucks seitens der Ukraine sowie deutscher und europäischer Medien, bestimmter Schwierigkeiten mit der russischen normativen und rechtlichen Regulierung, der Volatilität des Rubelkurses u. a.).
Anfang August hat Präsident Wladimir Putin gab Präsident Wladimir Putin das Aussetzen des Wirkens von Steuerabkommen mit 38 Ländern inklusive Deutschlands bekannt. Dabei geht es unter anderem um die Vermeidung einer Doppelbesteuerung, deren Aufhebung die steuerliche Belastung für die in Russland verbliebenen Tochterstrukturen deutscher Unternehmen erhöhen wird. Die Vermögen der Unternehmen, die das Land verlassen haben (viele bewahrten sich aber das Recht auf einen Rückkauf), haben russische Investoren erworben.
Es gibt Beispiele für eine „kleinkarierte Rache“ von der deutschen Seite aus. So hat die Zollverwaltung Deutschlands bei einer willkürlichen Auslegung der Termini „Export/Ausfuhr“ im Sommer begonnen, private PKW mit russischen Nummernschildern festzusetzen, wobei sie der Auffassung ist, dass sie für kommerzielle Zwecke in die Bundesrepublik eingeführt werden würden, was durch die Sanktionen verboten ist. Und die führenden deutschen Autokonzerne haben die Zusammenarbeit mit den russischen Händlern eingestellt und stoppen die Bereitstellung lizensierten Software für sie, die für Serviceleistungen für die Kunden erforderlich ist.
Irgendwelche positive Veränderungen in den bilateralen Beziehungen sind in den nächsten Monaten nicht zu erwarten. Als einen positiven Faktor wird man deren Nichtverschlechterung ansehen können. Die Position des Kanzlers, der Leiter seines Amts, des Auswärtigen Amts, des Wirtschafts- und des Innenministeriums sowie der Mehrheit des Abgeordnetenkorps in Bezug auf den Konflikt rund um die Ukraine wird vor allem eine destruktiv-antirussische bleiben. Und irgendwelche Bewegungen sind hier nicht auszumachen.