Die verschwindende Epoche nimmt Vieles mit sich mit: Es sterben Illusionen und Hoffnungen, Mythen werden zerstört, es ergibt sich eine neue Realität und das Lebensmilieu verändert sich. Vergessen wird das, womit ganze Generationen lebten.
Oft formierten herrschende Eliten autoritärer und totalitärer politischer Regimes vorsätzlich utopische Vorstellung und Mythen, die zielgerichtet in den Massen verbreitet werden. Ein derartiges massenhaftes Manipulieren des Bewusstseins der Gesellschaft bringt sofort auch bei Millionen von Menschen ein utopisches Bild der Wahrnehmung der Welt hervor, wobei erlaubt wird, verstreute politische und soziale Gruppen um einen nationalen Leader für irgendein konkretes Ziel zu vereinen. Zur gleichen Zeit ist es ebenfalls ein mächtiges Instrument für ein langes Behalten der persönlichen Macht. Und die russische Geschichte ist hier bei Weitem keine Ausnahme.
Es ist für keinen ein Geheimnis, dass die Ladung eines außenpolitischen Expansionismus Russland nie verlassen hat, wobei sie es im Verlauf der gesamten historischen Entwicklung verfolgte. Gerade sie wurde zu einem der Motoren für die Etablierung des russischen Staates.
Solch eine Tendenz offenbarte sich sowohl in den Jahren des Bestehens des frühfeudalen altrussischen Staates – der Kiewer Rus – im 9. bis 12. Jahrhundert als auch in der spezifischen Periode der feudalen Auseinandersetzungen des 12. bis 15. Jahrhunderts und zu Zeiten des Moskauer zentralisierten Staates des 15. bis 18. Jahrhunderts sowie nach der Bildung des Russischen Reichs 1721, als der eurasische kontinentale Expansionismus zu einem Fokus nicht selten aggressiver außenpolitischer Aktivitäten Russlands, der es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den größten Staat der Welt verwandelt hatte, wurde.
Der Mythos des Weltkommunismus
Die im Oktober 1917 an die Macht gekommenen Bolschewiken hatten mit Enthusiasmus das Banner des russischen kontinentalen Expansionismus ergriffen. Freilich hatten sie ihm eine kommunistische Färbung und eine globale Dimension verliehen.
Nach der russischen Revolution von 1917 hatte sich die herrschende Elite der jungen Sowjetrepublik die expansionistische Idee von der weltweiten proletarischen Revolution zu eigen gemacht, an die die ersten sowjetischen Bolschewiken (Sinowjew und Kamenjew, Lenin und Trotzki, Stalin und Bucharin) grenzenlos geglaubt hatten. Wenige von ihnen hatten daran gezweifelt, dass nach dem Oktober 1917 das revolutionäre Feuer nach Russland auch in der übrigen Welt aufflammen und ganz Europa (und selbst Amerika) unbedingt ein sowjetisches sein wird.
Ein besonderer revolutionärer Radikalismus ging damals von Trotzki aus, der auf die Rolle des Hauptorganisators des Oktober-Umsturzes und des Ideologen einer permanenten Revolution – eines ununterbrochenen revolutionären Prozesses im weltweiten Maßstab – Anspruch erhoben hatte.
Zwecks Organisierung einer Weltrevolution war 1919 in Moskau ihr Stab geschaffen worden, die Komintern, die ihre Sektionen – nationale kommunistische Parteien — bildete und sich in ein außenpolitisches Instrument des rasch wachsenden sowjetischen Imperiums verwandelte. Jedoch wurde bald klar, dass diese Idee lediglich ein leerer Mythos, eine illusionäre Utopie war. 1943 gab die Komintern unter dem Druck der Alliierten aus der Antihitler-Koalition die Selbstauflösung bekannt.
Die sowjetische Mythologie
Die Staatspropaganda der UdSSR der 1960er und 1970er Jahre gestaltete sich um mehrere Fokusse herum, die die außenpolitische sowjetische Mythologie prägten.
Einer von ihnen war die These vom amerikanischen Imperialismus, der den gesamten Erdball erfasst und das Vorankommen der übrigen Welt zu einer lichten kommunistischen Zukunft behindert. Dass der außenpolitische Kurs der UdSSR in den Jahren des Kalten Krieges dessen Spiegelbild gewesen war, löst heute bei wenigen Zweifel aus. Die zwei Supermächte hielten einander im Zaum, wobei sie praktisch ein und dieselben Instrumente für die Schaffung eigener Sphären für einen globalen geopolitischen Einfluss verwendeten.
Zur gleichen Zeit erlangte in der sowjetischen wissenschaftlichen und Studienliteratur auch eine andere These weite Verbreitung – über die historische Ausweglosigkeit des Kapitalismus, der in sein letztes Stadium – den Imperialismus – getreten ist, und über die drei Zentren der innerimperialistischen Widersprüche (die USA, Westeuropa und Japan), deren Akkumulierung zu dessen unweigerlichen Untergang und Sieg des Weltkommunismus führen werde.
Zu den Haupteinheiten der antiimperialistischen Bewegung wurden drei hauptsächliche Befreiungsströme erklärt – die Länder des sozialistischen Lagers, die internationale kommunistische Bewegung sowie die nationale Befreiungs- und antikoloniale Bewegung, durch deren Anstrengungen auch der mächtige imperialistische Damm zerstört werden müsse, der den Fortschritt der Menschheit behindert.
Die Zuspitzung der Widersprüche des Imperialismus, der Zerfall seines kolonialen Systems, die Verstärkung der politischen Reaktion sowie die tiefe Krise der bourgeoisen Politik und Ideologie wurden zu Symptomen der „generellen Krise des Kapitalismus“ erklärt, die die westliche Gesellschaft erfasst habe. Diese utopische Theorie existierte über Jahrzehnte hinweg, wurde in der UdSSR und den Ländern des Sozialismus total verbreitet, wobei sie nie bezweifelt wurde.
Verankert wurden derartige utopische Dogmen 1961 im vom 22. KPdSU-Parteitag verabschiedeten dritten Programm der KPdSU, das auf den Aufbau des Kommunismus im Verlauf von 20 Jahren abzielte, und in dessen neuen Fassung, die 1986 vom 27. Parteitag der Partei verabschiedet wurde und der die utopische Doktrin vom „entwickelten Sozialismus“ zugrunde lag.
Jedes Mal führten die ideologische Unentschlossenheit und das Schwanken der unveränderbaren sowjetischen Partei- und Staatsführung zur Schaffung eines falschen Weltbildes, wobei die Gesellschaft in eine Welt von Illusionen eingetaucht wurde.
Die Evolution des Kapitalismus
Die Realitäten erwiesen sich jedoch (wie dies oft vorkommt) als vollkommen andere. Die „generelle Krise des Kapitalismus“ hat doch nicht zu einem Sieg des Weltkommunismus geführt. Im Gegenteil, die Sowjetunion ist unter der Last innerer tiefer Widersprüche auseinandergefallen. Und zusammen mit ihrem Auseinanderfallen ist auch das in eine Sackgasse geratene System des Sozialismus zusammengebrochen. Die internationale kommunistische Bewegung fand sich in einer tiefen Krise wieder, nachdem es das gestellte Ziel nicht erreicht hatte.
Eine andere Situation hatte sich im Westen ergeben. Der westliche Kapitalismus überwand Krisen und ist nicht gestorben, sondern evolutionierte vorrangig in einer sozialistischen und neoliberalen Richtung. Indem er die Regel befolgte „willst du überleben, verändere dich“, wurde er zu einem immer steuerbareren seitens des Staates sowie zu einem menschlicheren und attraktiveren für die eigenen Bürger. Die soziale Verantwortung des Staates und des Business wurde zu einer Norm der westlichen Welt.
Diese Fähigkeit des Kapitalismus, sich unter dem Einfluss von Krisen rasch anzupassen, wobei er sich von den eigenen Makeln befreit, sowie sich ständig zu entwickeln und zu vervollkommnen, befand sich außerhalb des Gesichtskreises der „weitsichtigen“ sowjetischen Denker.
„Alte Lieder über das Wichtigste“
Auf der Welle der antiwestlichen Stimmungen und in einer Atmosphäre eines pseudopatriotischen Wahnsinns, der die Bevölkerung Russlands erfasst hat, die sich regelmäßig die „alten Lieder über das Wichtigste anhört und die Thesen der totalen staatlichen Propaganda mit einer frappierenden Leichtigkeit, naiv und gedankenlos aufnimmt, werden neue Mythen geschaffen. Und zusammen mit ihnen wird auch das gegenwärtige utopische Bewusstsein ausgeprägt. Diese Mythen werden Tag und Nacht durch eine neue Generation gut bezahlter professioneller politischer Manipulatoren und die Teilnehmer der zahlreichen TV-Talk-Shows verbreitet.
Unter den Bedingungen einer schleichenden Restaurierung des Stalinismus werden durch ihre Anstrengungen neue Dogmen implementiert – über die Krise der Globalisierung und der ganzen „angelsächsischen“ Welt (was mag dies im 21. Jahrhundert bedeuten?), über eine neue antikoloniale Revolution (in der Welt sind ganze 17 Kolonien übriggeblieben!), über das Einbüßen des US-amerikanischen Dominierens (und dies nach dem Zusammenbruch der UdSSR?), über eine große antiamerikanische Weltrevolution und insgesamt über den Niedergang des Westens (das zweite Anbrechen der „generellen Krise des Kapitalismus“?!).
Für derartige Erklärungen sind gewichtige Grundlagen notwendig. Gibt es sie? Versuchen wir einmal, uns darüber Klarheit zu verschaffen.
Inoffizielle Imperien der heutigen Welt
Das Dominieren der USA ist ein objektiver, ständig wirkender Faktor, der den Prozess dessen Ausprägung ab Beginn des 20. Jahrhunderts begann und nach wie vor (zum großen Bedauern der heutigen einheimischen Pseudopatrioten) besteht. Freilich, der Maßstab dieses Faktors, aber auch der Charakter und die Formen seines Auftretens evolutionierten.
In der beinahe 250jährigen Periode ihres Bestehens und einer Entwicklung dank einer globalen Expansion haben sich die USA im 20. Jahrhundert zu einem „inoffiziellen Imperium der heutigen Welt“ verwandelt, das durch sich fast alle Länder und Kontinente durchdringt und gleichzeitig in sich integriert. Gerade dies wurde zu einem langfristigen strategischen Kurs der USA, der „Nation aller Nationen“ und einer Supermacht der Gegenwart.
Indem die Vereinigten Staaten 25 Prozent des weltweiten industriellen BIP produzieren, bleiben sie weiterhin ein Wirtschaftsgigant der heutigen Welt. Mit Hilfe von zwölf militärpolitischen Blöcken sowie über 1000 Militärstützpunkten und Objekten, die in strategisch wichtigen Regionen der Welt disloziert worden sind, sichern sie ihre globale Dominanz. Eine US-amerikanische Militärpräsenz ist in mehr als 80 Länder der Welt fixiert worden.
Die USA ist eine nukleare Supermacht, die die weltweite Führungsrolle in solchen Bereichen wie die Weltwirtschaft, die Finanzen, den militärischen Bereich, die Innovationen, die direkten Investitionen sowie die Kultur bewahrt. Sie bewahren nach wie vor ihre Attraktivität. Beleg dafür sind die nichtversiegenden Massenströme von Einwanderern von allen Kontinenten. Alljährlich treffen rund eine Million Menschen in den USA ein.
Die USA, die über 70 Prozent (8150 Tonnen) der gesamten weltweiten Goldreserven besitzen, sind ein unbestrittener Spitzenreiter hinsichtlich des Umfangs der Goldreserven. Dies erlaubt, die Positionen des amerikanischen Dollars als eine weltweite Währung zu halten. Und obgleich heute lediglich drei Prozent der Bürger Russlands an seine Zuverlässigkeit glauben, wobei ein Paradoxon besteht: Ca. 60 Prozent der Bürger der Russischen Föderation bewahren ihre Ersparnisse in Dollar auf, deren Umfang die Rekordsumme von 226,6 Milliarden $! Ausmacht. Und in der langfristigen Perspektive wird er weiterhin die populärste und stabilste Währung in der Welt sowie die wichtigste internationale Reservewährung bleiben.
Das US-amerikanische globale Dominieren löst unterschiedliche Reaktionen aus – von einer Ablehnung bis zu einer Unterstützung. In der Welt erkennen beinahe 70 Prozent der Bevölkerung die Führungsrolle der Vereinigten Staaten an und stehen ihnen insgesamt positiv gegenüber. Zur gleichen Zeit hat ein Antiamerikanismus stets die Bewegung der Vereinigten Staaten auf dem Weg zum geopolitischen Gipfel begleitet. Eine permanente Ablehnung dieser Supermacht wird heute in solchen Ländern wie Jordanien, China, Palästina, Pakistan, dem Libanon, die KDVR, Russland, Belarus, Kuba, Österreich, Slowenien, Venezuela und der Iran bewahrt.
Der antiamerikanische außenpolitische Kurs der UdSSR, der auf einen Widerstand gegenüber den USA und dem gesamten Westen ausgerichtet war, hatte seinerzeit geholfen, das alternative sozialistische Imperium zu schaffen, das nur wenige Dezennien existierte und aufgrund der eigenen Lebensunfähigkeit zusammengebrochen ist. Sein globaler Zusammenbruch sollte zu einer guten Lehre für die gesamte Menschheit werden.
Jegliche Versuche des Zusammenschusterns einer neuen antiamerikanischen Koalition in globalen Dimensionen (die heute hartnäckig von den russischen Offiziellen unternommen werden, die von dem Bestreben erfasst sind, „das Verlorenen zurückzuholen“) werden wohl kaum zu einem Erfolg führen. Die Interessen der Mehrheit der Staaten der Welt sind bereits zu sehr in die US-amerikanischen integriert worden, wobei sie eine strategische gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihnen schufen und damit jeglichen aggressiven Antiamerikanismus ausbremsen.
China, das den Vereinigten Staaten herausforderte und vor mehr als 40 Jahren seinen Aufstieg begonnen hat, beschreitet einen Weg, der dem amerikanischen analog ist, wobei immer neue und neue Märkte und Einflusssphären auf dem gesamten Planeten erobert werden. Dieser Staat, der sich in eine internationale Fabrik verwandelt hat, steht an der Schwelle einer Transformierung zum zweiten „inoffiziellen Imperium der heutigen Welt“, zum wichtigsten globalen Konkurrenten für die Vereinigten Staaten (nach dem Zerfall der UdSSR). Die Faktoren, die die imperiale Zukunft Chinas absichern, werden jedoch wahrscheinlich andere sein.
Laut makroökonomischen Prognosen könne China bereits in den nächsten zehn Jahren die USA hinsichtlich der nominellen Größe der Wirtschaft überholen. Dieser Prozess wird von einem Kampf des Yuans gegen den Dollar und einem möglichen Verdrängen von letzterem von den Positionen der internationalen Reservewährung begleitet werden. Wird dies geschehen? Bisher ist es schwierig, diese Frage zu beantworten. Wenn dies aber auch geschieht, werden die Welt zweifellos große Veränderungen erwarten.
Somit existieren heute auf dem Planeten nur ganze zwei inoffizielle Imperien – die USA und China. Russland stellt ein einstiges Imperium dar, ist der Erbe der sowjetischen Supermacht, der das äußerst schmerzhafte Syndrom der plötzlich eingebüßten imperialen Größe durchmacht.
Dass in Russland heute ein markant ausgeprägtes postimperiales Syndrom zu beobachten ist, ist eher eine tragische Gesetzmäßigkeit denn eine historische Anomalie. Seine Besonderheit besteht darin, dass es nicht sofort nach dem Zerfall der UdSSR 1991 aufgetreten ist, sondern sich weitaus später bemerkbar gemacht hat, mit dem Machtantritt von Putin. Nach mehr als 30 Jahren hat das aufgeschobene Syndrom, dessen mögliche Geburt früher keine besondere Bedeutung beigemessen worden war, einen bedrohenden Charakter erlangt.
Drei geopolitische Programme
In der heutigen Welt gibt es nur drei Staaten mit eigenen globalen Programmen – die USA, China und Russland.
Vor allem die USA, die im Verlauf ihrer gesamten Geschichte ein eigenes geopolitisches Programm auf der Grundlage der Ideen einer amerikanischen Ausschließlichkeit und eines Messianismus, des Universalismus der amerikanischen Werte, des amerikanischen Dominierens und der unbestreitbaren Führungsrolle entwickelten. Mit dem Verfolgen der Politik eines globalen Expansionismus und der Verbreitung eigener Werte und Institute außerhalb der eigenen Grenzen, wobei sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ein inoffizielles Imperium der heutigen Welt verwandelten, haben sie für lange Zeit für sich den Status der Hauptsupermacht des Planeten einvernommen.
China hat vor relativ kurzer Zeit den Weg der Gestaltung eines eigenen globalen Kurses eingeschlagen. Zu dessen Hauptetappen wurden die Reformen von Deng Xiaoping, die Politik „Ein Gürtel – ein Weg“ und die Konzeption „Schaffung einer Gemeinschaft für das gemeinsame Schicksal der Menschheit“. Sie alle sind auf die eine oder andere Weise auf das Erreichen führender Positionen durch das Reich der Mitte auf dem Weg zu einem weltweiten Fortschritt ausgerichtet.
Klar ist eines: Die USA und China sind zwei inoffizielle Imperien der heutigen Welt. Wobei diese beiden Imperien, die in verschiedenen Regionen der Welt und in unterschiedlichen Epochen entstanden sind, hinsichtlich der Methoden für die Verbreitung ihres globalen Einflusses sehr ähnlich sind. Und es ist kein Zufall, dass die Konfrontationshauptachse der heutigen Welt gerade zwischen ihnen verläuft.
Russland aber hat seine, eine besondere Hemisphäre. Als Haupterbe der auf den Ruinen des Russischen Imperiums geschaffenen sowjetischen Supermacht hat es sich als eine Geisel des eigenen imperialen Komplexes erwiesen. Gerade damit sind auch dessen heutiges außenpolitisches Verhalten und jene Probleme, die es der Welt beschert, zu erklären.
Es ist kein Geheimnis, dass sich nach dem Zerfall der kolonialen Imperien für alle Metropolien eine unweigerliche Nostalgie hinsichtlich der eingebüßten Größe – das sogenannte postimperiale Syndrom – ergeben hat. Entwickelt hat es sich praktisch gleich, nachdem klar war, dass die einstige koloniale Stärke zusammenbricht.
Winston Churchill hatte beispielsweise der Sieg im Zweiten Weltkrieg nicht sehr erfreut, da das geschehen war, wozu er offenkundig nicht bereit gewesen war. Aufgewachsen im Britischen Imperium und von ihm geprägt, konnte er sich nicht damit abfinden, dass dieses Imperium vor seinen Augen in die Brüche geht. Das gleiche kann man auch über seinen Zeitgenossen, über General Charles de Gaulle sagen. Erzogen in der französischen Gesellschaft mit einem imperialen Bewusstsein konnte er sich nicht daran gewöhnen, dass Frankreich ein für alle Mal eine Kolonie nach der anderen verlor. Aber nach Überwindung seiner imperialen Gefühle hatte er es dennoch vermocht, sich an die prinzipiell neue Situation anzupassen.
Russland, dass heute ein äußerst schmerzhaftes postimperiales Syndrom durchmacht, unternimmt gleichfalls den Versuch, ein eigenes globales geopolitische Programm zu entwickeln. Es ist aber bisher zu schwammig, instabil und eklektisch. Urteilen Sie selbst! Das Programm (eher eine Zusammenstellung von Grundsätzen) basiert auf einem Vermischen von Ideen des Eurasientums, der „russischen Welt“, auf einem aggressiven Antiamerikanismus und einem Kampf gegen die einpolige Welt und den „verfaulenden“ Westen insgesamt.
In ihm sind ebenfalls Ideen von einer „souveränen Demokratie“, vom „tief verwurzelten Volk“ sowie die Sehnsucht nach traditionellen Werten und dem christlich-orthodoxen Glauben enthalten. Das gesamte derartige Mischmasch wird durch einen konservativen Leim zusammengehalten, der die inhomogenen Komponenten des Programms verbindet. Dieses Gemisch erinnert irgendwie an die antiwestlichen ideologischen Erfindungen von vor beinahe 200 Jahren – an die „Theorie des offiziellen Volkstums“ von Graf Sergej Uwarow, der im Verlauf von 30 Jahren ununterbrochen Präsident der Kaiserlichen russischen Akademie der Wissenschaften und in Personalunion Minister für Volksbildung gewesen war. Seine Triade „Orthodoxie. Absolutismus. Volkstum“ war eine ideelle Verkörperung des russischen Monarchismus, der neben der Orthodoxie und der absolutistischen Herrschaft, die durch die Unterstützung des Volkes gesichert wurde, angeblich als zuverlässige Garanten für das Existieren und die Größe Russlands auftreten.
Was aber den Konservatismus angeht, den die heutigen russischen Herrschenden so liebgewonnen haben, so ist er nicht so eindeutig. Es gibt in der Welt keinen einheitlichen, keinen zeitlosen und universellen Konservatismus. Dies ist eine dahinfließende Erscheinung. Die Objekte für eine Konservierung sind für ihn unterschiedliche. In verschiedenen Ländern ist er individuell. Aber der Konservatismus, den es in Russland einst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben hatte und der heute mitunter als ein Vorbild aufgegriffen wird, ist wohl unter den heutigen Bedingungen kaum geeignet.
Das heutige Russland, das sich als der hauptsächliche Nachfolger der sowjetischen Supermacht erwiesen hat und eine Nostalgie hinsichtlich der einstigen Größe und des eingebüßten Einflusses verspürt sowie heute das aufgeschobene postimperiale Syndrom zu spüren bekommt, verfügt dennoch aber über eine starke expansionistische Ladung und Ambitionen bezüglich einer globalen geopolitischen Einflussnahme, die sich bisher immer noch nicht offenbart und realisiert haben.
Das heutige Russland, das reiche Erfahrungen durch den kommunistischen Expansionismus besitzt, der mit dem Wirken der Komintern verbunden war, und das nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg rasch eine eigene regionale und globale Einflusssphäre schuf, sie aber nach dem Zerfall der UdSSR mit einem Schlag verlor, versucht bisher erfolglos, eine verspätete Revanche zu nehmen.
Mit diesem Ziel hat es die Schaffung neuer Integrationsvereinigungen (die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, die Eurasische Wirtschaftsunion, die Shanghai-Gruppe und BRICS) initiiert, womit es eigene geopolitische Felder und Räume etabliert. Diese Ziele hatte auch die einst erfolgreiche Energiestrategie Russlands verfolgt, die in der Welt nicht nur als ein Instrument zur Sicherung sicherer Märkte für den Absatz von Energieressourcen für sich, sondern auch als ein Schlüsselelement der Organisierung seiner eigenen globalen Einflusssphären wahrgenommen worden war.
Mit dem Versuch, um sich auf einer antiwestlichen Plattform frühere koloniale und unterdrückte Völker Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zu vereinen und sie in den Kampf gegen die Länder der „goldenen Milliarde“ zu involvieren, die „ihre Weltherrschaft durchdrücken“ und über Jahrzehnte in der Welt dominieren, erhebt Russland heute den Anspruch auf die Rolle eines Anführers „der globalen Mehrheit“.
Jedoch hat es bisher nicht verstanden, eine reale Konkurrenz für die USA und China darzustellen und sich in eine eigenständige geopolitische antiwestliche Lokomotive zu verwandeln. Ja, und mit Hilfe der neu zu schaffenden staatlichen Mythologie wird es dies wohl auch schon nicht schaffen.
Das Ziel von all diesem ist durchaus offensichtlich – ein die eigene Gesellschaft in eine Welt von Illusionen eintauchendes und von einer absolutistischen und patriotischen Rhetorik begleitetes unverhohlenes und vorsätzliches unbefristetes Bewahren der Macht um jeden Preis, die Bewahrung des Eigentums und des politischen Regimes durch die herrschende Elite und der mit ihr integrierten Oligarchen.
Unter den Bedingungen des Informationszeitalters ist Russland buchstäblich in der Vergangenheit steckengeblieben, wobei es die Realitäten durch Illusionen ersetzt und immer noch auf ein Väterchen-Zar oder eine andere starke Hand der obersten Herrscher setzt sowie dabei versucht, sich erfolglos die einstige Größe, die verlorenen Besitzungen und weltweiten Einfluss zurückzuholen.
Im Zusammenhang damit sei angemerkt, dass heute viele entsprechend den Worten des Kenners der absolutistisch-bürokratischen Realität Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Schtschedrin geneigt sind, zwei Begriffe zu verwechseln – „Vaterland“ und „Eure Hoheit“. Die von dem großen Schriftsteller der Zarenzeit formulierten Worte sind auch heute aktuell. Die heutigen einheimischen Helfershelfer des Autoritarismus (ähnlich den Satrapen der der Geschichte anheimgefallenen antiken östlichen Despotien), die bar jeglichen historischen Bewusstseins sind, setzen ohne Scham, mit einer rührenden Ergriffenheit und aufrichtig das Oberhaupt des Staates mit dem Staat an sich gleich, den zeitweiligen Herrscher des Landes – mit der großen nationalen und historischen Konstanten.
Beschämend, meine Herren, und erniedrigend!
Jedes Volk hat wie auch jeder Mensch eine eigene Biografie. Es gibt sogar auch eine eigene Adresse. Und das Wertvollste ist sein einmaliger Charakter, der jedem eine besondere Individualität und Ausschließlichkeit verleiht. Nur im Wissen darum kann man eine Linie für ein zivilisiertes und verantwortungsbewusstes internationales Verhalten gestalten, dessen offensichtliches Defizit in der heutigen Welt besteht.
Aber dies ist bei Weitem nicht alles. Wissen und keine Mythen über ein anderes Volk und einen anderen Staat erlauben, nicht nur sie, sondern auch sich selbst zu verstehen, nachdem eine allseitige und gleichzeitig kritische Sichtweise auf das eigene Land und auf dessen Geschichte mit allen schwierigen Seiten, mit dessen nicht einfachen und tragischen Vergangenheit ausgeprägt worden ist, selbst wenn sie (die Vergangenheit) auch mit Illusionen, die die Gesellschaft erfassten, vermischt worden war. Freilich mit bereits schon lange und unumkehrbar verlorengegangenen.
- S.
Der vorliegende Beitrag wurde erstmals in russischer Sprache am 29. August in der „Nesawissimaya Gazeta“ veröffentlicht. Er enthält im Grunde genommen Gedanken, die nicht neu sind und in zahllosen wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht wurden. Doch der Text wirkte jetzt wie eine Bombe in Russland, das es offenkundig nicht mehr gewohnt ist, Meinungen zur Kenntnis zu nehmen, die sich nicht in den Mainstream einfügen. Viele Leser konstatierten gleichfalls für sich, dass Valerij Garbusow letztlich mit einem Schlag Dogmen, Narrative und Grundgedanken der russischen Offiziellen komplett demontierte. Russlands Staatspropaganda wurde in den Grundfesten erschüttert und vermochte oft nur primitiv zu reagieren. Leider führte dieser wichtige „NG“-Beitrag zu noch einem traurigen Ergebnis: Valerij Garbusow wurde fristlos als Direktor des USA- und Kanada-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften entlassen. Inwieweit dieser beispiellose Schritt als ein Signal für andere Wissenschaftler, Akademiker mit unvorhersehbaren Folgen – einmal abgesehen von einer weiteren ideologischen Gleichschaltung in Russland – aufgenommen wird, wird wohl bereits die nächste Zukunft zeigen.