Über 30 Prozent der Unternehmer und Beamten sind der Auffassung, dass Russland sich auf Zugeständnisse gegenüber dem Westen zwecks Aufhebung der Wirtschaftssanktionen einlassen müsse. Solche Angaben von Befragungen der Elite veröffentlichten das kremlnahe Allrussische Meinungsforschungszentrums (VTsIOM) und der Organisator von Präsidialveranstaltungen und Foren „Roscongress“ in einem Report mit dem Titel „Souveränität als ein Weg zur Prosperität“. Die Hälfte der Vertreter der Elite versteht nicht: Fördert die gegenwärtige Politik des Landes das Erreichen der Souveränität oder fördert sie dies nicht. Einen Nutzen für die Entwicklung der Wirtschaft sehen in den Sanktionen heute weniger als ein Drittel der befragten Beamten oder Geschäftsleute. Und dies, obwohl viele Branchen bereits die Produktionsumfänge aus den Zeiten vor den Sanktionen wiederhergestellt haben.
Den neuen VTsIOM-Bericht kann man als eine Untersuchung der Stimmungen des loyalen Teils der russischen Elite bezeichnen. Die Schlussfolgerungen der kremlnahen Soziologen basieren auf Experten-Interviews mit Vertretern des Business, von Unternehmervereinigungen, der Wissenschaftler-Community sowie der exekutiven und legislativen Gewalt. Außerdem wurden die Ergebnisse der Befragungen von Teilnehmern des Internationalen Petersburger Wirtschaftsforums berücksichtigt, die auf der Internetseite von „Roscongress“ einen persönlichen Account einrichteten. Der Report beschreibe die Haltung der Beamten und Unternehmer zu den antirussischen Sanktionen, zur Importsubstitution, zum parallelen Import sowie zur „Wende gen Osten“, aber auch die Wünsche des Business gegenüber dem Staat, teilte Valerij Fjodorow, der Generaldirektor des VTsIOM, mit.
Unter den befragten Vertretern vermochten die Soziologen keine dominierenden Stimmungen hinsichtlich der gegenwärtigen Politik des Staates, in Bezug auf die westlichen Sanktionen oder die Versuche einer Bewegung zu einer Souveränität bestimmen. „Laut der Umfrage sind 37,7 Prozent der Befragten der Auffassung, dass die Sanktionen die russische Wirtschaft sowohl positiv als auch negativ beeinflusst hätten. Etwas weniger (31,9 Prozent) denken, dass sie die russische Wirtschaft eher positiv beeinflusst hätten. Fast ein Viertel der Vertreter der Elite (24,6 Prozent) meinen, dass die Sanktionen für die russische Wirtschaft eher schädlich seien“. Dabei „halten die Experten das Regime der Sanktionen für eine objektive Realität, mit der man sich abfinden müsse. Und man müsse es lernen, mit ihr zu leben“, wird in dem Bericht von VTsIOM betont.
Zwecks Klärung der Haltungen zu möglichen Zugeständnissen wurden den Vertretern der Elite zwei Varianten genannt. Die erste: „Die russischen Offiziellen müssen den westlichen Sanktionen keine Aufmerksamkeit schenken und folglich sich an den aktuellen Kurs in der Außenpolitik halten“. Und die zweite: „Die Offiziellen des Landes müssen eine Aufhebung der Sanktionen anstreben, selbst wenn man sich dafür auf einige Zugeständnisse in der Außenpolitik einlassen muss“. Es stellte sich heraus, dass 37,7 Prozent der Befragten erklärten, dass die Offiziellen keine Aufhebung der Sanktionen durch Zugeständnisse anstreben sollten. Eine entgegengesetzte Meinung vertritt fast ein Drittel der Elite – 30,4 Prozent der Befragten. Sie antworteten, dass sich die Herrschenden auf Zugeständnisse im Interesse einer Aufhebung der antirussischen Sanktionen einlassen sollten.
Die Haltung zu möglichen Gegenmaßnahmen zeigt ebenfalls eine Spaltung der Meinungen. Über 39 Prozent der Vertreter der Elite sind der Auffassung, dass die russischen Offiziellen aktiver ihre Sanktionen gegen die westlichen Länder und Unternehmen anwenden sollten. Und beinahe 38 Prozent denken, dass man dies nicht tun sollte.
Bestimmter bzw. eindeutiger steht die Elite der Politik des parallelen Imports gegenüber. Über 52 Prozent der Befragten bewerten die Politik des parallelen Imports positiv, da er die Lebensqualität und das Niveau des Konsums der Bürger Russlands bewahre. Derweil beurteilen 14,5 Prozent der Befragten negativ den parallelen Import. Über die Hälfte der Beamten und Geschäftsleute denken, dass die Politik des parallelen Imports den Zustand der Wirtschaft eher positiv beeinflusst habe. Die meisten Experten halten gleichfalls die Politik des parallelen Imports für eine positive Praxis, die den Unternehmen im vergangenen Jahr wesentlich geholfen habe. Dennoch wird dabei der parallele Import als eine Variante für die kurzfristige Perspektive angesehen. Im Weiteren könnten sekundäre Sanktionen diesen Lieferungen einen Riegel vorschieben. Daher müsse die eigene Fertigung entwickelt werden, prognostizieren die Vertreter der Elite. Nach ihrer Meinung habe der parallele Import die russische Wirtschaft im Frühjahr des vergangenen Jahres über Wasser gehalten, als sich nach der Verhängung einer großen Anzahl von Sanktionen für das Business die Möglichkeit ergeben hatte, die notwendigen Waren über Drittländer zu erhalten. Dies zügelte einen drastischen Preisanstieg und die Panik unter der Bevölkerung.
Über 70 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass sich die Importsubstitution positiv auf den Zustand der Wirtschaft ausgewirkt habe. Und nur 5,8 Prozent der Vertreter der Elite nehmen den Einfluss der Politik zur Importsubstitution negativ auf. „Eine effektive Importsubstitution ist ohne das Vorhandensein qualifizierter Kader unmöglich. Es muss eine staatliche Politik gestaltet werden, wobei nicht nur Menschen mit notwendigen Spezialisierungen ausgebildet, sondern auch Programme für eine Rückkehr der Ausgereisten implementiert werden“, urteilen die Befragten.
Freilich, hinsichtlich der realen Politik des Staates ist bei den Vertretern eine große Unbestimmtheit auszumachen. Auf die direkte Frage, ob die derzeitige Wirtschaftspolitik der russischen Regierung der Konzeption für eine souveräne Entwicklung entspreche, hat sich die Hälfte der Beamten und Wirtschaftsvertreter mit einer Antwort schwergetan. Dabei erklärten aber rund 39 Prozent, dass die heutige Wirtschaftspolitik den Prinzipien einer souveränen Entwicklung entspreche. Und etwa zwölf Prozent denken, dass sie denen nicht entspreche.
Ungeachtet der schwierigen Haltung der Elite zu den Sanktionen und der heutigen Wirtschaftspolitik erfolgen im realen Sektor schnelle Prozesse einer Anpassung. In einem letzten Report der Zentralbank wurden unter anderem die Erfolge des Sektors der Holzverarbeitung hervorgehoben, der durch die Sanktionsverbote für einen Export aus der Russischen Föderation stark gelitten hatte.
Die Holzverarbeitungsindustrie verringerte den Umfang der Erzeugnisse im vergangenen Jahr um beinahe zehn Prozent. Aber seit Beginn dieses Jahres werden die geschäftlichen Aktivitäten schrittweise wiederhergestellt, obgleich viele Probleme nach wie vor nicht gelöst worden sind. Ein erheblicher Anteil der Holzverarbeitungserzeugnisse (vor allem Spanholzplatten sowie Holzspan- und Holzfaserplatten) findet keine ausreichende Nachfrage auf den asiatischen und auf alternativen Märkten, konstatierten die Experten der Zentralbank. „Unter solchen Bedingungen ist es äußerst wichtig, eine Zunahme des Inlandsverbrauchs der Erzeugnisse zu sichern. Eine signifikante Nachfrage für sie demonstriert die Möbelbranche. Ein Anstieg ihrer Produktion unterstützt gleichfalls eine ganze Reihe angrenzender Branchen – der Textilindustrie, der Herstellung von Polymeren und Metall für Beschläge etc.“, urteilt man in der Zentralbank. Seit Mitte vergangenen Jahres nimmt in Russland die Herstellung von Möbeln zu und übersteigt bereits deutlich den Stand des recht erfolgreichen IV. Quartals des Jahres 2021. Die einheimischen Hersteller haben den Anteil auf dem Markt von 60 bis auf 76 Prozent vergrößert. In der Branche wird eine ganze Reihe von Investitionsvorhaben realisiert, deren Start in den nächsten zwei, drei Jahren erfolgen soll.