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Reiche Sparer gegen arme Leute


Die nominellen Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung der Russischen Föderation sind im letzten Jahr um elf Prozent angestiegen und erreichten fast 50.000 Rubel (umgerechnet ca. 514 Euro) im Monat. Dabei hat der unnormal hohe Leitzins der Zentralbank sogar eine Zunahme des Zustroms „überschüssiger“ Rubel auf die Depositenkonten ausgelöst. Aber hinter dem statistischen Durchschnittsbild verbirgt sich eine ungute Tendenz: Im Land steigt die Zahl der wenig abgesicherten Schuldner, von denen jeder nicht in der Lage ist, mehrere seiner Kredite zu tilgen. Um die Zunahme der sogenannten schlechten Schulden zu bremsen, hat die Zentralbank die Ausstellung neuer Bankkarten an die Schuldner eingeschränkt. Der Grund für die Nachbarschaft der reichen Sparer mit der wachsenden Armee der armen Schuldner liegt in der Ungleichheit der Einkommen. Fast zwei Drittel der Familien in Russland kommt nicht einmal an das offizielle statistische Pro-Kopf-Durchschnittseinkommen heran.

Die durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung haben im dritten Quartal dieses Jahres 49.467 Rubel im Monat erreicht, informierte das russische Statistikamt Rosstat. Dies ist aber nur die „Durchschnittstemperatur im Krankenhaus“, wie man gern im Russischen erklärt. Sie berichtet sowohl die recht gut situierten als auch die sehr sozial schwachen Bürger Russlands. Eine detailliertere Aufteilung der Bürger der Russischen Föderation entsprechend der individuellen Einkommen veröffentlicht Rosstat bisher nicht. Urteilt man aber entsprechend der offiziellen Statistik des vergangenen Jahres, so haben 64 Prozent (oder beinahe zwei Drittel der russischen Familien) heute Einkommen unterhalb des offiziellen Durchschnittsniveaus. Dabei garantiert das generelle Ansteigen der Einkünfte der Bevölkerung ganz und gar keine Verbesserung der materiellen Lage aller und eines jeden.

Mehr noch, von einer Verschlechterung der materiellen Lage sprechen heute zweimal mehr Befragte als von einer Verbesserung. Und diese Umfrageergebnisse entsprechen etwa dem Gesamtwert für die Ungleichheit der aktuellen Einkünfte, vor deren Hintergrund gerade zwei Drittel der Bevölkerung nicht auf den landesweiten Durchschnittswert für die Pro-Kopf-Einkommen kommen. Ein Großteil dieser Bevölkerungsgruppe existiert mit Schulden, die durch mehrere Kredite verursacht worden sind. Und gerade für diese Bevölkerungsgruppe ist das neue Verbot der Zentralbank für die Ausstellung neuer Anleihen und sogar von Bank-Kreditkarten bestimmt.

Die Bank Russlands hat strengere Restriktionen für die Kreditvergabe an Kreditnehmer mit einer großen Schuldenbelastung festgelegt, teilte die von Elvira Nabiullina geleitete Zentralbank am 24. November mit. Ab Januar nächsten Jahres soll jede Geschäftsbank ihre summarischen Limits in Bezug auf Kreditkarten für Bürger mit einer relativ großen Schuldenlast von den gegenwärtigen 20 bis auf zehn Prozent verringern. Bürger „mit einer relativ großen Schuldenlast“ sind jene, die hinsichtlich der bestehenden Schulden 50 bis 80 Prozent ihrer offiziellen Einkünfte zur Tilgung aufwenden. Die Reduzierung des Gesamtlimits an Kreditkarten in jeder Geschäftsbank bedeutet, dass bei weitem nicht jede Bank im neuen Jahr einem chronischen Schuldner eine neue Kreditkarte ausstellen kann. Und für den Erhalt solch einer Kreditkarte wird der Schuldner zwischen verschiedenen Banken herumlaufen müssen. Und dies mitunter auch ohne jegliches Ergebnis.

Außer dem Limit für Kreditkarten hat die Zentralbank gleichfalls den maximalen Anteil neuer Kredite für Bürger der Russischen Föderation mit einer Schuldenbelastung von 50 bis 8ß Prozent der aktuellen Einkünfte von den gegenwärtigen 30 Prozent bis auf 25 Prozent verringert.

Das Verbot für die Gewährung von Krediten oder die Ausgabe von Kreditkarten über einen maximalen Anteil bezeichnet die Zentralbank als makroprudenzielle Limite. Den einfachen Bürger Russlands beeindruckt natürlich eine derartige Terminologie. Aber das Wesen der neuen Verbote ändert sich aber durch diese Bezeichnung in keiner Weise.

Die neue Einschränkung für eine Kreditvergabe an die Bürger ist die Fortsetzung des früher erklärten Kurses auf eine Beschränkung der Gewährung von Anleihen für die Bevölkerung. Dabei hält die Zentralbank ihre Politik der Restriktionen für eine recht erfolgreiche. „Im Oktober dieses Jahres hat sich unter den Bedingungen der Verschärfung der Geld- und Kredit- sowie der makroprudenziellen Politik die Zunahme der Verschuldung in Bezug auf die nicht abgesicherten bzw. ungedeckten Verbraucherkredite bis auf 1,1 Prozent verlangsamt (1,5 Prozent im September, 2,4 Prozent im August)“, erklärte am 24. November die Zentralbank. Das größte Tempo der Zunahme der Schulden konstatierte die Zentralbank für die Banken, die sich auf die Ausgabe von Kreditkarten spezialisieren. „In diesem Segment wird ein erheblicher Teil der Mittel (82 Prozent) entsprechend den Karten bereitgestellt, die durch die Kreditnehmer noch vor Einführung der makroprudenziellen Limite eröffnet wurden. Im Zusammenhang damit hält es die Bank Russlands für zweckmäßig, den Übergang zu einer ausgewogeneren Struktur der Kreditvergabe entsprechend den Kreditkarten zu beschleunigen, und verschärft die makroprudenziellen Maßnahmen bezüglich solcher Kredite im I. Quartal des Jahres 2024“, erläuterten Vertreter der Zentralbank.

Die Verbote für die Banken in Bezug auf die Gewährung von Krediten und Ausstellung von Kreditkarten erklärt die Zentralbank mit dem Ziel, „eine übermäßige Aufnahme von Krediten durch die Bürger einzuschränken, vor allem jene, die bereits eine große Schuldenbelastung haben“. Das Ziel ist ein edles. Was aber bleibt jenen Bürger, die dank neuer Kredite alte Kredite tilgen, unter den Bedingungen der neuen Verbote zu tun? Im Januar kommenden Jahres können viele von ihnen weder eine neue Anleihe noch eine neue Kreditkarte erhalten. Wird aber diese Tatsache für sie die übermäßige Belastung durch Kredite verringern, denn die Schulden lösen sich für sie dadurch nicht in Luft auf. Zu einem Ausweg unter den Bedingungen der neuen Kredit-Restriktionen wird für die Bürger die Aufnahme von Krediten in den sogenannten „Mikrofinanz-Institutionen“ mit räuberischen Zinsen oder die Einleitung einer Prozedur, an deren Ende die Erklärung einer offiziellen Insolvenz erfolgt.

Einen Zustrom neuer Kreditnehmer nach Verhängung der makroprudenziellen Verbote der Zentralbank fixieren bereits die Vereinigungen von Mikrofinanz-Organisationen. Laut Angaben der sich selbst regulierenden Organisation „Mikrofinanzierung und Entwicklung“ hat in den ersten zehn Monaten dieses Jahres die Zahl der Bürger spürbar zugenommen, die früher nie etwas mit Mikrofinanz-Institutionen zu tun gehabt hatten und sich erstmals an solche wandten. Per 1. November dieses Jahres haben 27 Prozent der Anträge neuer Kunden eine Billigung für die Gewährung von Anleihen erhalten. Vor einem Jahr hatten die Mikrofinanz-Organisationen lediglich 21,7 Prozent der Anträge neuer Kreditnehmer gebilligt.

Innerhalb des letzten Jahres hat sich die Anzahl der Bürger Russlands, die mit drei und mehr Krediten belastet sind, um 2,2 Millionen Menschen erhöht und 11,2 Millionen Menschen erreicht, informierte die Zentralbank entsprechend den Ergebnissen des 1. Halbjahres. Schulden in Banken haben heute über 47 Millionen Bürger Russlands. Freilich, während ein Teil der Bevölkerung nach Geld für eine Tilgung von Schulden sucht, bringt der andere „überschüssige“ Rubel auf Depositenkonten. „Es hat sich eine sehr wichtige Wende im Verhalten der Bürger vollzogen. Sie haben begonnen, Bargeld in die Banken zurückzubringen. Im September und Oktober sind 200 Milliarden Rubel auf die Depositenkonten zurückgekommen“, berichtete Elvira Nabiullina. Laut ihren Worten werde das Wachstum der Depositenkonten „auch in den nächsten Monaten andauern“. „Heute begreifen alle“, sagte sie, „dass Depositenkonten mit 12, 14 und gar 15 Prozent Zinsen vorteilhaft sind“.