Am 1. Dezember kam es zu einem Führungswechsel im Bolschoi-Theater. Den Direktorensessel hat Valerij Gergijew eingenommen. Wladimir Urin geht, wie Vizepremier Tatjana Golikowa erklärte, auf eigenen Wunsch. Das Kollektiv – beim entsprechenden Vorstellungstreffen waren die Leiter der Hauptabteilungen des Theaters zugegen – dankte seinem scheidenden Leiter mit Ovationen.
Es ist klar, dass Wladimir Urin keinerlei Wunsch hatte, das Theater zu verlassen, wie es auch keine offenkundigen Gründe seitens der Beamten gab, die solch eine sanfte (in der Tat aber erniedrigende) Form des Gehens vorgeschlagen hatten. Das Bolschoi-Theater ist eine erfolgreiche Institution. Und der Hauptparameter für die erfolgreiche Arbeit sind die verkauften Eintrittskarten. Darunter auch dies, dass es jetzt eine Chance für einen gewöhnlichen Menschen gibt, der nicht mit dem Status eines Beamten „mit einem Hebel“ oder der Möglichkeit, bei einem Spekulanten eine Eintrittskarte zu erwerben, belastet ist, zu einer „Nussknacker“-Aufführung zu kommen. Das System des Verkaufs von Eintrittskarten per Ausweis ist ein schwerfälliges, aber funktionierendes.
Die zehn Jahre Arbeit Urins sind für die Geschichte des Bolschoi-Theaters zweifellos signifikant. Sein Producer-Gespür erlaubte es, das Repertoire so zu gestalten, dass das Theater ein Spitzenreiter der Agenda war – zumindest, wenn man anhand der Anzahl der „Goldenen Masken“ urteilt, als dieser Theaterpreis noch angesehen war und sich von der Regel „Profis für Profis“ leiten ließ. Je mehr das (Petersburger) Mariinskij-Theater in den Schatten rückte, umso mehr strahlte das Bolschoi-Theater. Und selbst die an Popularität und Ansehen gewinnenden Bühnen in Perm und Jekaterinburg stimmten den Kammerton eher entsprechend Moskau, denn dem einst grandiosen Sankt-Petersburg ein.
Am beweiskräftigsten war die Politik des 76jährigen Urins auf dem Gebiet des Balletts. Die begabte und arbeitsfähige Truppe, die durch Machar Wasijew in der Funktion des künstlerischen Leiters verstärkt wurde, vervollkommnete sowohl die Klassik als auch die moderne Choreografie. „Der gezähmte Widerspenstige“ von Jean-Christophe Maillot, „Anna Karenina“ von John Neumeier, die Rekonstruktionen klassischer Ballette von Alexej Ratmanskij oder Pierre Lacotte, die Blockbuster von Jurij Posochow und Kirill Serebrennikow „Ein Held unserer Zeit“ und „Nurijew“, einaktige Ballette von Maitres des Contemporary Dance – all dies hielt das Niveau des Bolschoi-Theaters auf der höchsten Stufe.
So war es nicht um den Bereich der Oper bestellt. Das Jugendprogramm hat wertvolle SängerInnen hervorgebracht, doch der neue musikalische Leiter des Theaters, Tugan Sochijew, hatte sich mit einer Leichtigkeit von ihnen getrennt, womit er europäischen und amerikanischen Theatern ausgezeichnete Künstler zum Geschenk machte. Die Idee von Wladimir Urin, eine Truppe zu schaffen, die eine ausschließliche Qualität der Aufführungen sichert, ist nicht verpufft. Eine ausschließliche Qualität sichern die SängerInnen, die in der ganzen Welt singen wollen und sollten. Und hier haben sich die Wünsche der Seiten nicht gedeckt. Dafür ist es aber Urin gelungen, Anna Netrebko zu bekommen. Die Primadonna erhielt nicht nur „ihre“ Rolle im Bolschoi-Theater („Manon Lescaut“ war für sie inszeniert worden), sondern sang auch mehrfach in Aufführungen des laufenden Repertoires.
Im Opern-Repertoire war die Politik von Urin eine moderate. Seine Strategie bestand darin, dass auf dieser Bühne verdiente Regisseure aus dem Schauspielbereich inszenieren. Nicht immer gelungen. Aber in der anderen Waagschale waren Koproduktionen mit angesehenen europäischen Institutionen, die dem Bolschoi „Alcina“ von Georg Friedrich Händel in einer Inszenierung von Katie Mitchell oder „Billy Budd“ von Benjamin Britten (Regisseur David Alden) bescherten. Gerade unter Urin tauchte im Bolschoi-Theater ein Barock-Repertoire auf, mit dem das Haus bisher nicht auf Du und Du gestanden hatte. Schließlich wurde ein epochaler Vertrag über die Inszenierung von drei Werken zusammen mit der Metropolitan abgeschlossen. Und obgleich lediglich zwei Inszenierungen auf die Bühne gebracht wurden – „Salome“ und „Lohengrin“ -, überdies auch ohne die anfangs angekündigte Anna Netrebko, war die für das russische Theater an sich ein grandioses Ereignis. Im Bolschoi wurde eine Aufführung vom Star-Regisseur Claus Guth herausgebracht. Und die Hauptpartie sang in ihr die weltweit beste Salome – Asmik Grigorian. Und schließlich hatte Wladimir Urin den Wünschen des Publikums nachgegeben und ist gegen seine eigenen Neigungen aufgetreten, indem er Dmitrij Tschernjakow ins Theater holte. Und seine „Sadko“-Inszenierung war eine der besten Arbeiten der letzten zehn Jahre.
Wladimir Urin hatte mit einem maximalen Maß an Feingefühl die Angliederung des Boris-Pokrowskij-Kammermusiktheaters an das Bolschoi vorgenommen, ohne weder die Repertoire-Prinzipien dieses einmaligen Theaters über den Haufen zu werfen noch die Einheit der Truppe zu zerstören. Schade ist, dass es ihm nicht gelungen ist, die Rekonstruktion dieser Bühne zu beginnen. Man sagt, dass das Projekt ein sehr schönes sei. Der Kaliningrader Filiale hatte der weise Direktor ebenfalls ein Maximum an Eigenständigkeit zugesagt. Aber sie ist leider noch nicht fertiggebaut worden.
Das „Schiff“ des Bolschois hat würdig die Jahre der Pandemie überstanden. Die schonenden restriktiven Maßnahmen hatten dem Direktor erlaubt, für eine Reihe von Aufführungen sowohl Netrebko als auch Ildar Abdrasakow und sogar Placido Domingo zu bekommen. Auch wenn letzterer schon nicht mehr auf dem Höhepunkt seiner Form gewesen war. Die (eigenen) Prinzipien hatten es Urin nicht erlaubt, sich in Schweigen zu hüllen, als das Land den Weg der militärischen Sonderoperation betrat, obgleich sich im Weiteren das Theater auch an das Programm zur Unterstützung der neuen Region angeschlossen hatte. Aus dem Repertoire verschwanden aber die Inszenierungen der „illoyalen“ Künstler Kirill Serebrennikow, Timofei Kuljabin und Roman Feodori. Es ist eine Zeit der Kompromisse.
Wie dem auch immer gewesen sein mag, der Zuschauer konnte sich sicher sein: Heute wird er eine würdige Aufführung erleben, deren Qualität über jeglichen Zweifel steht. Jetzt aber steht dem Theater eine absolute Unbestimmtheit bevor. Dies ist aber Gegenstand eines gesonderten Beitrags.
Post Scriptum
Als am 1. Dezember Valerij Gergijew als neuer Chef des Bolschoi-Theaters (in Personalunion mit dem Posten des Leiters des Mariinskij-Theaters) vorgestellt wurde, überschlugen sich beinahe die staatlichen russischen Medien in ihren Hymnen auf den 70jährigen. Erinnert wurde an seine Sonderkonzerte im syrischen Palmira und in Südossetien (Gergijew selbst ist Ossete – Anmerkung der Redaktion). Vergessen waren da die Verdienste von Wladimir Urin, der dem Kremlchef nahestehenden neuen Mann den Direktorensessel freimachte. Und ein Blick in die Zukunft für beide Häuser verhieß laut Aussagen von Vizepremier Tatjana Golikowa, dass es keine Zusammenlegung der beiden berühmten Theater geben werde. Wie aber das künftige Repertoire des 1825 eröffneten Bolschoi-Theaters aussehen werde, war ebenfalls kein Thema. Eines ist aber schon heute klar: Der Einfluss des Kremls macht auch vor dem russischen Kulturbetrieb nicht halt.