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Über die Präsidentschaftswahlen und das symbolische liberale Kapital


Auf der Wahlkampfseite des Politikers Boris Nadeschdin ist am Donnerstag mitgeteilt worden, dass über 150.000 Unterschriften von Wählern für eine Registrierung für die Präsidentschaftswahlen gesammelt worden sind. Nachdem das erforderliche Minimum von 100.000 Unterschriften erreicht worden war, erklärte Nadeschdin, dass die Sammlung fortgesetzt werde, denn es könne keinerlei Garantien dafür geben, dass die Zentrale Wahlkommission alle Unterschriften als echte anerkenne. Daher sei eine Reserve erforderlich.

Zuvor war bekannt geworden, dass in Jaroslawl der Präsidentschaftskandidat der Partei „Neue Leute“, Wladislaw Dawankow, für eine Nominierung und Registrierung Nadeschdins unterschrieben hatte. Dabei erklärte er, dass er nicht in allem Nadeschdin zustimme, aber die Auffassung vertrete, dass „es in der Russischen Föderation politische Konkurrenz geben muss“. „Ich selbst weiß, wie schwer es ist, Unterschriften zu sammeln. Ich denke, dass alle Kandidaten, die Dokumente eingereicht haben und Unterschriften sammeln, registriert werden müssen. Und dies ist mein kleiner Beitrag. In dieser Woche werde ich auch für andere Kandidaten unterschreiben“, sagte Dawankow.

Diese Geste kann man natürlich auf unterschiedliche Art und Weise verstehen. Unter Politologen und politischen Kommentatoren sind verschiedene Interpretationen anzutreffen. Beinahe alle bezweifeln, dass man Nadeschdin registriert, wieviel Unterschriften er auch immer in die Zentrale Wahlkommission bringen werde. Folglich wird Dawankow mit seiner Unterstützung rechnen können, mit seinem Elektorat bzw. mit dem symbolischen liberalen Kapital – wie es mitunter apostrophiert wird. Es kursiert die Auffassung, dass der Kandidat der Partei „Neue Leute“ doch den Herrschenden zuspielt. Er nimmt die freie liberale Nische ein und kann folglich Menschen veranlassen, an die Wahlurnen zu kommen, und helfen, die Wahlbeteiligung und folglich auch die Legitimität der Wahlen an sich zu erhöhen.

Hinsichtlich der elektoralen Aktivität Dawankows sind unterschiedliche Meinungen zu vernehmen. Die einen betonen, dass nur Leonid Sluzkij (LDPR) mehr als er durch Regionen tourt. Und andere sind dagegen der Auffassung, dass Dawankow ausschließlich auf die Aufmerksamkeit der hauptstädtischen politischen Telegram-Autoren setze, denn den Offiziellen seien keine zusätzlichen und von der Wirkung her nichtvoraussagbare Aktivitäten von ihm nötig.

Kann Wladislaw Dawankow bei den Wahlen erfolgreich auftreten? In seinem Fall ist ein Erfolg offenkundig kein Sieg und kein zweiter Urnengang (darüber kann nicht geträumt werden), sondern ein Wiedererkennungseffekt. Dies ist ein Arbeiten für die Perspektive, für die Zukunft, eine für die Partei „Neue Leute“ an sich wichtige, deren Lage im politischen System nach Beginn der militärischen Sonderoperation keine sichere und bestimmte zu sein scheint. Sie sind als eine gemäßigt liberale Struktur in die Staatsduma eingezogen. Es wurde die Auffassung vertreten, dass es für die Herrschenden wichtig sei, diese Nische auszufüllen. Ob dies heutzutage wichtig ist, ist eine große Frage. Die Agenda ist auf maximale Weise vereinfacht worden.

Es ist schwer, die „Neuen Leute“ als eine Partei mit einer klaren Ideologie, mit klaren Ideen zu bezeichnen. Kann man sagen, dass sie Liberale sind? Nein, wenn das spezifisch russische Verständnis gemeint, in dem unter Liberalismus ein kompromissloser oppositioneller Charakter, ein Westlertum und ein Anti-Putin-Narrativ verstanden werden. Dier „Neuen Leute“ scheren beispielsweise nicht aus dem Duma-Konsens hinsichtlich der Krim, der neuen Territorien, der militärischen Sonderoperation und der Außenpolitik aus. Wenn man aber Wirtschaftsfragen nimmt, so scheint diese Partei liberaler als die anderen zu sein. Sie akzentuiert in große Maße die Marktwirtschaft, die Verteidigung der Unternehmer. Anhand der öffentlichen Äußerungen auch von Dawankow kann man verstehen, was heutzutage gerade in Bezug auf den angenommenen liberalen Diskurs erlaubt ist. Beispielsweise kann man ein Verbot einiger sozialer Netzwerke beklagen. Das Recht der Frauen auf einen Schwangerschaftsabbruch unterstützen, dies kann man.

Wahrscheinlich wird man auch auf das symbolische Kapital von Nadeschdin – auf das Protest-, das pazifistische und liberale Kapital – Anspruch erheben können. Noch vor zehn Jahren hätte man annehmen können, dass die Herrschenden in der Person von Dawankow einen Spoiler-Kandidaten für die gesamte außerparlamentarische Opposition sehen, deren Potenzial schwer abzuschätzen war. Jetzt wird man eher von einer Bilanzierung der Säuberung des politischen Feldes in den letzten Jahren sprechen können. Wenn die Säuberung eine erfolgreiche war, so dürfte das liberale Elektorat weder Nadeschdin noch Dawankow erhebliche Prozentpunkte bescheren. Entsprechend den Vorstellungen und der Meinung der Offiziellen sei solch ein Elektorat jetzt ein verschwindend geringes. Und bei den Wahlen wird man dies demonstrieren können.