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Soziale Pflichten – kein Muss für den Staat?


Am Anfang einer jeden Krise versichern die russischen Beamten, dass der Staat all seine sozialen Pflichten gegenüber den Bürgern erfüllen werde. Das klingt schön. Tatsächlich aber ist dem nicht so, was auch durch Berichte des Rechnungshofs (RH) bestätigt wird. Bisher hatten die Auditoren eingestanden, dass der russische Staat über Jahre seine Pflichten gegenüber Waisen nicht erfüllt. Er ist beispielsweise verpflichtet, ihnen Wohnraum bereitzustellen. In einem neuen Report konstatiert der RH nun, dass der Staat seinen Pflichten hinsichtlich einer Verbesserung der Wohnbedingungen von Behinderten nicht gerecht wird.

Gemäß der geltenden Gesetzgebung muss der russische Staat Ressourcen für eine Verbesserung der Wohnbedingungen für Behinderte bereitstellen. Die sozialen Pflichten des Staates gegenüber den Behinderten wurden in den wilden 1990er Jahren formuliert, als das föderale Gesetz „Über den sozialen Schutz von Behinderten in der Russischen Föderation“ (Nr. 181-FG vom 24. November 1995) verabschiedet wurde. Doch unter den gegenwärtigen russischen Bedingungen sieht dieser Prozess so aus: Der Staat hat ein so lange Warteschlange in Bezug auf die Verbesserung der Wohnbedingungen organisiert, dass die Behinderten einfach nicht bis zur Bereitstellung dieser staatlichen Hilfe überleben. 

„Das Tempo der Gewährung staatlicher Unterstützung für eine Verbesserung der Wohnbedingungen ist ein so geringes, dass es die Behinderten oft einfach nicht schaffen, ihr Recht auf Wohnraum zu realisieren“, erklärte Swetlana Orlowa vom Rechnungshof. „Die Anzahl der aufgrund unterschiedlicher Ursachen (selbständige Lösung der Wohnungsprobleme, Tod, Verlust des Status eines Behinderten) aus den Wartelisten gestrichenen Behinderten übersteigt deutlich die Anzahl der Bürger, die eine staatliche Unterstützung erhalten haben. So haben 2018 drei Prozent der Wartenden eine staatliche Unterstützung erhalten, aber das Recht auf eine Verbesserung des Wohnraums haben rund 25 Prozent verloren. Im Jahr 2019 machte dieses Verhältnis sechs Prozent und zwölf Prozent aus“, konstatierte Swetlana Orlowa entsprechend den Analyseergebnissen. 

Das Hauptproblem ist der Mangel an finanziellen Ressourcen. Seit 2014 wird der Bedarf der Regionen an Mitteln aus dem föderalen Haushalt im Durchschnitt zu fünf Prozent befriedigt. Das erlaubte, im Verlauf eines Jahres gerade einmal drei bis sechs Prozent der Gesamtzahl der Bedürftigen zu versorgen. „Hier haben wir noch ein unterfinanziertes föderale Mandat (Pflicht – Anmerkung der Redaktion). Unter der Bedingung einer Beibehaltung der Tendenz der Bereitstellung finanzieller Ressourcen in genau solchen Umfängen werden für eine vollständige Beseitigung der Warteschlange über 20 Jahre gebraucht“, betonte die Auditorin. 

Es sei daran erinnert, dass im gleichen Jahr 2014 der damalige und heutige Finanzminister Anton Siluanow dem Staatsoberhaupt versicherte, dass die Regierung der Russischen Föderation alle sozialen Verpflichtungen erfüllen werde. „Die notwendigen Ausgaben und Mittel dafür sind im Entwurf des Landesetats für die nächsten drei Jahre vorgesehen“ (Zitat der Nachrichtenagentur TASS). Dabei fing Siluanow nicht an zu erklären, warum die Wohnraumhilfe für die Behinderten nicht zu 100, sondern nur zu 5 Prozent finanziert wird. 

Im Jahr 2018 machte die Höhe der durchschnittlichen sozialen Beihilfen für einen Bürger zwecks Verbesserung der Wohnbedingungen 704.000 Rubel (rund 9.500 Euro) aus, im Jahr 2019 – 734.000 Rubel (10.150 Euro), was nicht erlaubt, geeigneten Wohnraum zu erwerben, wird im Bericht des RH betont. Laut Informationen aus den Regionen leben rund eine Million Behinderte in nicht für sie angepasstem Wohnraum.

Eine so ungefähre Zahl wird genannt, da es in den Regionen keine exakte Buchführung über die Nutzung der sozialen Beihilfen gibt. Ja, und auch auf föderaler Ebene fehlen vollständige und glaubwürdige Informationen über die Wohnbedingungen der Behinderten. Die auf föderaler Ebene existierenden Informationssysteme erlauben nicht, ein aktuelles Bild zu gewinnen, gestehen die Auditoren ein. 

Die Anzahl der behinderten in Russland beläuft sich auf 11,2 Millionen Menschen. Doch bei weitem nicht alle werden als solche anerkannt, die einer Verbesserung der Wohnbedingungen bedürfen. In den örtlichen Selbstverwaltungsorganen sind in der Warteschlange für Wohnraum 2,4 Millionen minderbemittelte Bürger erfasst worden, von denen 63.700 Behinderte sind. Doch aufgrund des Fehlens von Einnahmen seitens der meisten Kommunen wird die Warteschlange der auf Wohnraum hoffenden minderbemittelten Bürger in den meisten Regionen faktisch nicht kürzer, gesteht man im Rechnungshof ein. 

Die föderalen Gesetze legen eine unterschiedliche Herangehensweise an die Versorgung der Behinderten mit Wohnraum fest, in Abhängigkeit von der Zeit deren Erfassung – bis zum 1. Januar 2005 oder später. Diejenigen, die bis 2005 in die Warteschlange erfasst wurden, sollten dank dem föderalen Etat Wohnraum erhalten. Es ist erstaunlich, doch die föderale Regierung hat in den vergangenen 15 Jahren die sozialen Verpflichtungen gegenüber diesen Behinderten nicht erfüllt, von denen es zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch 42.000 Menschen gibt. Und dies vor dem Hintergrund, dass die föderalen Beamten allerhöchsten Ranges uns dessen versichern, dass sie alle sozialen Verpflichtungen, die gemäß Gesetz vorgesehen sind, erfüllen würden. 

Um diese eigentlich schändliche Situation zu überwinden, schlägt der Rechnungshof dem Ministerkabinett vor, sich in erster Linie gerade dieser Gruppe von Behinderten anzunehmen. Dafür wird der Vorschlag unterbreitet, auch die bedürftigen Behinderten in das nationale Projekt „Wohnraum und städtisches Umfeld“ aufzunehmen. Die Auditoren schlagen vor, die Wohnraumzuschüsse aus dem Etat aufzustocken und all die Bedürftigen, die vor 2005 in die Warteschlange aufgenommen wurden, zumindest bis zum Jahr 2025 mit Wohnraum zu versorgen. 

Weitaus schlimmer ist die Lage der Behinderten, die sich zwecks Wohnraum nach dem 1. Januar 2005 in die Warteschlange eingereiht haben. Fristen für eine Versorgung dieser Gruppe mit Wohnraum werden von den Beamten nicht genannt. Und sie schlagen lediglich vor, Gesetzesänderungen vorzubereiten, wobei „eine Ausarbeitung von Modalitäten für die Realisierung ihrer Rechte auf eine Verbesserung der Wohnbedingungen vorgesehen und Finanzierungsquellen bestimmt werden“. 

Noch eine Richtung der sozialen Pflichten, die der russische Staat ignoriert, ist die Versorgung volljähriger Waisen und der aus den Kinderheimen entlassenen Zöglinge mit Wohnraum. Diese soziale Verpflichtung ist gleichfalls durch ein föderales Gesetz verankert worden. Die föderalen Offiziellen schauen sich aber viele Jahre die länger werdende Warteschlange der wohnungslosen Waisen nur an.

Seit dem vergangenen Jahr ist die Anzahl der Waisenkinder, die die Volljährigkeit erreichten und keinen Wohnraum entsprechend dem Gesetz erhielten, um 16.000 angestiegen und belief sich auf 191.000 Menschen. „Heute ist die Versorgung von Waisenkindern mit Wohnraum das am wenigsten finanzierte staatliche Mandat“, meint Rechnungshof-Auditor Sergej Schtogrin. Gerade deshalb wird die Warteschlange der Waisenkinder, die Wohnraum benötigen, weiterhin länger. 

Beim Jahresbericht des Rechnungshofes dankte Valentina Matwijenko, Vorsitzende des Föderationsrates, den Auditoren des RH für die aktive Arbeit hinsichtlich dieser Frage und rief auf, „diese schändliche Seite endlich umzublättern“. Derweil ist Valentina Matwijenko gerade eine jener Staatsbeamtinnen, die den Bürgern versichert, dass der Staat all seine sozialen Pflichten erfülle. Die Situation im Zusammenhang mit dem Coronavirus und mit der möglichen Weltwirtschaftskrise hindere Russland nicht daran, alle von ihm übernommenen sozialen Verpflichtungen zu erfüllen, und sie würden nicht korrigiert werden, teilte die Chefin des Föderationsrates mit. 

Die nichterfüllten sozialen Verpflichtungen in Bezug auf die Waisen und Behinderten werden die Regierenden wohl nicht aufheben, da dies eine gesellschaftliche Empörung auslösen wird, meint Natalia Subarewitsch, Direktorin des Regionalprogramms des Unabhängigen Instituts für Sozialpolitik. Die Beamten werden wahrscheinlich eine Taktik des Verschweigens und einer stillen Verweigerung der Finanzierung wählen, meint die Expertin.