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Eine schwere Woche für die russische Zivilgesellschaft


 

 

 

Eine weitere schwere Woche für die russische Zivilgesellschaft bzw. für das, was von ihr geblieben ist, geht zu Ende. Sie demonstrierte erneut, dass die heutigen Regierenden in Russland keine Kritik – vor allem hinsichtlich der militärischen Sonderoperation in der Ukraine — dulden und bei Bedarf aus ihrem Zynismus und ihrer Intoleranz sowie ihrer Missachtung der Landesverfassung keinen Hehl machen. Letzteres gilt konkret für Artikel 29 des russischen Grundgesetzes, der Meinungs- und Redefreiheit als eines der wichtigsten Grundprinzipien eines demokratischen und Rechtsstaates proklamiert. Und Russlands Offizielle fürchten selbst tote Regimekritiker.

Oleg Orlow, der bekannte Menschenrechtler und Mitbegründer der Organisation „Memorial“, die im Jahr 2022 mit dem Friedensnobelpreis für ihre Arbeit ausgezeichnet wurde, erfuhr zu Wochenbeginn im Golowinskij-Stadtbezirksgericht von Moskau sein Urteil in einem von der Staatsanwaltschaft erneut aufgerollten Verfahren wegen angeblicher Diskreditierung der Landesstreitkräfte. Die im Herbst letzten Jahres verhängte Geldstrafe von 150.000 Rubel erschien den Anklägern als eine zu geringe Strafe. Im zweiten Versuch erreichten sie das gestellte Ziel – den 70jährigen studierten Biologen hinter Gittern zu bringen. Zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe bekam Orlow für einen Artikel aus dem Jahr 2022, wobei es die Staatsanwaltschaft nicht einmal für nötig hielt, konkret zu beweisen, mit welchen Worten er die Armee diskreditiert und gar Intoleranz und Hass demonstriert haben soll. Richterin Jelena Astachowa störte dieser Umstand in keiner Weise, reduzierte jedoch das geforderte Strafmaß um fünf Monate. Beobachtern des Prozesses fiel dabei erneut auf, dass gerade Frauen in Richterrobe in Russland Freiheitsstrafen verhängen, mit denen die Meinungsfreiheit als ein Grundrecht der russischen Bürger ausgehebelt wird. In Petersburg hatte Oxana Demischewa am 16. November 2022 die junge Künstlerin Alexandra Skotschilenko zu einer siebenjährigen Haftstrafe dafür verurteilt, dass sie in einem Supermarkt fünf Preisschilder gegen Sticker mit Informationen zum Ukraine-Krieg ausgetauscht hatte. Im Sommer des gleichen Jahres hatte eine Kaliningrader Richterin den 64jährigen Aktivisten Igor Baryschnikow zu siebeneinhalb Jahren Lagerhaft wegen angeblicher Fakes über die russische Armee verurteilt. Dass der Rentner laut einem gerichtsmedizinischen Gutachten unter Krebs leidet und einen Bauchdeckenkatheter tragen muss, war dabei nicht der Rede wert. In Bezug auf das Urteil gegen Oleg Orlow veröffentlichten 32 Menschenrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zu dem umstrittenen Urteil. Darin heißt es unter anderem: „Orlow (Jahrgang 1953) ist einer der bekanntesten Menschenrechtler Russlands. Er hat sein Leben dem Dokumentieren von Menschenrechtsverletzungen und der Hilfe für Opfer der (staatlichen – „NG Deutschland“) Willkür gewidmet. Sein „Verbrechen“ besteht in einem Protest gegen den Kreml-Krieg in der Ukraine und gegen die Eskalierung der Repressalien in Russland. Der Prozess gegen Orlow ist eine Verhöhnung der Rechtsprechung und ein Schlag gegen das fundamentale Rechte auf eine freie Meinungsäußerung. Orlow, der im Gerichtssaal festgenommen wurde, wird das unrechtmäßige Urteil anfechten.

Die russischen Offiziellen müssen unverzüglich die Verfolgung von Orlow einstellen und ihn, aber auch alle, die als Vergeltung für die Realisierung ihrer Grundrechte inkl. des Rechts auf eine öffentliche Kritik von Verletzungen der von Russland übernommenen völkerrechtlichen Pflichten hinter Gitter geraten sind, auf freien Fuß setzen. Die internationalen Schlüsselakteure müssen alles Mögliche tun, um eine Freilassung von Orlow zu erreichen und die russischen Offiziellen aufgrund der groben und systematischen Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung ziehen“.

Der vergangene Freitag gestaltete sich derweil zu einem Tag, der einerseits gewohnte Informationen aus dem Justizministerium brachte, andererseits aber vielen noch lange in Erinnerung bleiben wird. Die 81jährige Schriftstellerin Ludmilla Ulizkaja wurde nun auch mit dem Label „ausländischer Agent“ versehen. Als Grund war da auf der offiziellen Internetseite des Ministeriums zu lesen: „Ludmilla Jewgenjewna Ulizkaja war als Befragte auf Informationsplattformen, die durch ausländische Agenten und ausländische Massenmedien bereitgestellt wurden, präsent, trat gegen die militärische Sonderoperation in der Ukraine auf, betrieb Propaganda für LGBT-Beziehungen und nahm am Verfassen von Mitteilungen und Materialien ausländischer Agenten für einen unbegrenzten Kreis von Personen teil“. Die im Ausland lebende Autorin, deren Arbeiten auch ins Deutsche übersetzt wurden, taucht unter der Nummer 770 im offiziellen Register der „ausländischen Agenten“ auf und befindet sich in der illustren Gesellschaft vom beispielsweise eingangs erwähnten Menschenrechtler Oleg Orlow oder des TV-Senders „Doschd“. Während die Erweiterung des Registers bereits zu einer Routine geworden ist, gestaltete sich die Beisetzung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny für den Kreml am Freitag zu einem Stress-Test. Trotz Drohungen und Verwarnungen aus dem Kreml sowie in Schulen und Hochschuleinrichtungen, aber auch ungeachtet des massiven Polizeiaufgebots waren tausende einfache Menschen zur Kirche für die Gottesmutterikone „Lindere meine Trauer“ im Moskauer Stadtviertel Marjino gekommen. In der wurde im Schnellverfahren ein Gedenkgottesdienst für den 47jährigen zelebriert, der am 16. Februar in der Strafkolonie von Charp hinter dem Nördlichen Polarkreis verstarb. Verantwortlich für diese unwürdige und nur 20 Minuten dauernde Zeremonie, der lediglich ca. 300 Menschen beiwohnen konnten, war laut Insiderinformationen das Moskauer Patriarchat. Es hatte vom Kirchenvorsteher Anatolij Rodionow verlangt, die kirchliche Trauerfeier auf ein Minimum zu reduzieren. Vorausgegangen waren dem ein Tauziehen um die Übergabe des Leichnams von Nawalny an seine Mutter, Probleme mit dem Mieten eines Saales für eine weltliche Trauerfeier. Und selbst am Tag der Beisetzung gab es unschöne Momente, da man u. a. im Leichenschauhaus sich nicht an die Terminabsprachen für die Überführung in die Kirche halten wollte. Vergessen waren da die von Kremlchef Putin und Patriarch Kirill propagierten russischen traditionellen Werte wie Barmherzigkeit und Menschlichkeit.

Das Abschiednehmen von Alexej Nawalny sollten auf Verlangen des Kremls so erfolgen, damit sich die Situation von 1989 nicht wiederholt, als der Friedensnobelpreisträger, der „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“ und Dissident Andrej Sacharow in Moskau beigesetzt wurde. Daher hatten auch die staatlichen Massenmedien die Anweisung erhalten: kein Wort über Nawalny, nur Lobeshymnen auf die Putin-Versprechen aus der am Donnerstag vorgetragenen Jahresbotschaft. Diese Anstrengungen fruchteten jedoch nicht viel. Vor allem unzählige junge Menschen waren gekommen, um Abschied von Nawalny zu nehmen. In Sprechchören bekundeten sie den Wunsch, in Russland ohne Putin leben zu wollen, und den Willen, das Werk des Oppositionspolitikers fortzusetzen. Bis in die späten Abendstunden kamen sie zum Grab Nawalnys auf dem Borissowskoje-Friedhof, um ihre Achtung zu bekunden und des Mannes zu gedenken, der ihnen eine Zukunftsperspektive vermittelt hatte.

Mit dem Tod von Alexej Nawalny hat die russische Zivilgesellschaft einen spürbaren Verlust erlitten. Die liberale Opposition Russlands hat im Grunde genommen keine markanten Figuren mehr. Freilich darf nicht übersehen werden, dass Nawalny selbst eine widersprüchliche Persönlichkeit gewesen war. Er hatte es nicht verstanden, die Gegner des Putin-Regimes zu vereinigen. Möglicherweise sah er nur sich selbst als eine potenzielle Führungsfigur. Und da er die letzten drei Jahre in den Klauen der russischen Justiz gewesen war, vermochte er keine Impulse für das Handeln der liberalen, der außerparlamentarischen Opposition zu vermitteln. Manch einer sah seine Rückkehr nach Moskau im Januar 2021, nachdem er in Deutschland von einem Giftanschlag in Sibirien im Jahr 2020 genesen war, als den Versuch, zu einem Märtyrer in den Augen des russischen Volks zu werden. Dies ist jedoch nicht geschehen, wobei die vom Staat kontrollierten Medien ihren erheblichen Beitrag geleistet hatten. Für viele Russen war er ein Mann, der im Interesse des Westens handelte und der keine Alternative zu Putin darstellte.

Der Tod von Alexej Nawalny, der vor allem im Westen eine neue Welle von Kritik an die Adresse des Kremls ausgelöst hatte, ist vor allem eine Tragödie für seine nächsten Angehörigen, für seine Eltern, seinen Bruder, für seine Kinder und besonders seine Frau Julia. Sie demonstrierte in dieser Woche erneut große moralische Stärke. In einer emotional beeindruckenden Rede vor dem Europa-Parlament am Mittwoch, betonte sie beispielsweise eine Tatsache, die bisher nicht jeder westliche Staatsmann eingestehen will: Mit Sanktionen und Resolutionen ist der Herrschaft von Putin nicht beizukommen, sie vermochten nicht, diese ins Wanken zu bringen. Bewegender jedoch war für viele ihr Abschiedspost auf Instagram, der am späten Freitagnachmittag mit einer Serie von Fotos und mit einem Song von Semfira, die im Februar letzten Jahres als „ausländischer Agent“ gelabelt wurde, veröffentlicht wurde. Die Redaktion „NG Deutschland“ veröffentlicht nachfolgende eine Übersetzung dieses Posts:

„Ljoscha, ich danke dir für 26 Jahre absolutes Glück. Ja selbst für die drei letzten Jahre Glück. Für die Liebe, dafür, dass du mich stets unterstützt hast, dafür, dass du selbst aus dem Gefängnis gescherzt hast, dafür, dass du stets an mich gedacht hast.

Ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll. Ich bemühe mich aber so, dass du dich dort oben für mich freust und auf mich stolz bist. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe oder nicht. Ich werde mich aber bemühen.

Wir werden uns unbedingt irgendwann wieder treffen. Ich habe für dich so viele nichterzählte Geschichten. Und ich habe für dich genauso viele im Telefon gespeicherte Sonsg, dumme und lustige und überhaupt – ehrlich gesagt – schreckliche Lieder. Sie sind aber über uns. Und ich hatte es so gewollt, sie dir zum Anhören zu geben. Ich wollte so gern sehen, wie du sie dir anhörst, dich amüsierst und mich dann umarmst.

Ich werde dich ewig lieben. Ruhe in Frieden.“

 

 

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