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Russen verlieren Interesse am Home-Office-Arbeitsregime


Der generelle Trend hinsichtlich einer Erweiterung der Beschäftigung im Homeoffice-Regime hat sich scheinbar in Russland nicht durchgesetzt. Nach der Lockerung der Quarantäne-Maßnahmen hat sich der Anteil der von zu Hause aus arbeitenden Mitarbeiter spürbar verringert. Laut Angaben von Soziologen hat sich die Beschäftigung im Homeoffice-Regime in den letzten Monaten um mehr als 50 Prozent verringert.

Wie soziologische Umfragen zeigen, hat die Coronavirus-Epidemie zu keiner Revolution auf dem Arbeitsmarkt geführt. Rund 70 Prozent der Befragten des Levada-Zentrums betonten, dass sich ihr Arbeitsregime aufgrund des Coronavirus in keiner Weise veränderte und sie genauso wie auch früher arbeiten. Zur Beurteilung der Tendenzen verglichen die Soziologen die Ergebnisse von Umfragen im April und im Juli. 

Im April, in der Zeit der maximalen Selbstisolierung, berichteten rund 13 Prozent der Befragten über einen vollständigen Übergang zu einer Arbeitstätigkeit von zu Hause aus, während es im Juli lediglich 5 Prozent waren. Im April teilten 15 Prozent der Russen mit, dass sie sich in einem notgedrungenen Urlaub ohne oder mit einer teilweisen Beibehaltung des Arbeitseinkommens befinden. Zum heutigen Tag aber gibt es nur rund 4 Prozent solcher Arbeitnehmer. Der Anteil derjenigen aber, die sich in einem notgedrungenen Urlaub mit einer vollständigen Bewahrung des Arbeitsverdienstes befanden, fiel von 8 Prozent im April bis auf ein Prozent im Juli. Gelegentlich von zu Hause aus arbeiten insgesamt 7 Prozent der Befragten, fast genauso viele wie auch im April. 

Solch ein Rückschlag für das Homeoffice-Regime ist insgesamt erstaunlich, wenn man berücksichtigt, dass vor noch nicht allzu langer Zeit viele Experten von einer Revolution auf dem Arbeitsmarkt sprachen. Und viele Arbeitgeber planten, auf maximale Weise ihre Arbeitnehmer im Homeoffice arbeiten zu lassen. Einige geben auch diese Pläne nicht auf. So verspricht die Sberbank, bis September bis zu 30 Prozent der Mitarbeiter auf das Homeoffice-Regime umzustellen.

Laut Schätzungen des Arbeitsministeriums sind derzeit 9 Prozent aller Beschäftigten im Homeoffice-Regime tätig. Dies sind rund 5,5 Millionen Menschen, präzisierte man im Ministerium. Dabei rechnet man dort damit, dass die Fern-Beschäftigung auch in der Postpandemie-Zeit gefragt sein wird. „Viele Bürger haben verstanden, dass dies aus der Sicht der Arbeitsorganisation und einer Minimierung der Kosten recht bequem ist“, betonte Arbeitsminister Anton Kotjakow in einem TASS-Interview. 

Das Interesse der Arbeitgeber an einer Fern-Beschäftigung soll augenscheinlich ein neuer Gesetzentwurf unterstützen, der das Regime der Arbeit im Homeoffice regelt. Er sieht unter anderem die Verankerung von drei Beschäftigungsarten vor – Fern-Beschäftigung, zeitweilige Fern-Beschäftigung und kombinierte Arbeit im Homeoffice. „Dies wird erlauben, die sich herausgebildeten Formen der Beziehungen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu legalisieren sowie die Modalitäten für die Ausfertigung der Dokumente und der Regel zur Kompensierung der Ausgaben des Arbeitnehmers zu bestimmen, zum Beispiel für die persönlichen Anlagen bei einer Tätigkeit von zu Hause aus“, hofft man im Arbeitsministerium. Das Dokument hat im Übrigens bereits die erste Lesung in der Staatsduma erlebt. 

Bemerkenswert ist, dass das aktuelle Abgehen der Menschen vom Homeoffice-Regime vor dem Hintergrund einer Zunahme der Arbeitslosigkeit im Land zu beobachten ist. Laut den Ergebnissen des Junis ist die Arbeitslosenrate in der Russischen Föderation auf einen Rekordstand von 6,2 Prozent angestiegen. Das heißt, rund 4,6 Millionen Bürger Russlands haben keinen Job. Zum Vergleich: Im April und Mai machte die Arbeitslosenrate 5,8 bzw. 6,1 Prozent. Insgesamt lag entsprechend den Ergebnissen des zweiten Quartals die Zahl der Arbeitslosen im Land bei 4,4 Millionen Menschen. Die Arbeitslosenrate – bei 6 Prozent. Es sei angemerkt, dass entsprechend den Ergebnissen des ersten Quartals die Arbeitslosenrate im Land insgesamt bescheidenere 4,6 Prozent ausmachte. Das heißt rund 3,4 Millionen Menschen fanden auf dem Arbeitsmarkt keinen Job (siehe „NG“ vom 26.07.2020 – https://www.ng.ru/economics/2020-07-26/4_7920_unemployment.html).  

Im Arbeitsministerium versichert man: Der Höhepunkt hinsichtlich der Arbeitslosigkeit sei noch nicht passiert worden. „Der Spitzenwert hinsichtlich der Anzahl der arbeitslosen Bürger wird im dritten Quartal – im August und September – erreicht“, teilte Kotjakow mit. Die Situation werde sich erst im vierten Quartal zu stabilisieren beginnen, wenn die Zahl der arbeitslosen Bürger durch eine Anstellung zurückgehen werde, meinte er weiter.   

Einen baldigen Höhepunkt hinsichtlich der Arbeitslosigkeit verheißen die Offiziellen vor dem Hintergrund eines sich bereits vollziehenden kolossalen Rückgangs der Realeinkommen der Bürger Russlands. So sind im zweiten Quartal des laufenden Jahres die realen, zur Verfügung stehenden Einkünfte der Russen um 8 Prozent zurückgegangen, meldete Rosstat. Insgesamt seien laut offiziellen Angaben innerhalb des ersten Halbjahres die Einkünfte der Bürger Russlands um 3,7 Prozent gefallen. Experten der Wirtschaftshochschule stellten in ihrer Befragung fest, dass das Problem des Verlusts oder der Verringerung des Einkommens breite Bevölkerungsschichten berührt. So haben allein Ende Mai 13,5 Prozent der Bevölkerung ihre Einkommen verloren. Bei 32 Prozent sind die Einkommen „erheblich“ zurückgegangen, und für weitere 15,7 Prozent sind sie „unerheblich“ gesunken, folgte aus den Umfrageergebnissen. Unter den Ursachen nannten die Befragten den Verlust der Arbeit, einen unbezahlten oder teilweise bezahlten Urlaub sowie die Umstellung auf das Homeoffice-Regime bei einer teilweisen Beibehaltung des Arbeitseinkommens.  

Im Grunde genommen wird heute der Verlust der Einkommen zur größten Furcht der Russen, folgt aus einer Umfrage, die durch das Internetportal rabota.ru durchgeführt wurde. Unter anderen haben 62 Prozent der Befragten eingestanden, dass ihnen am meisten der Verlust der Einkommen Angst mache. Eine Entlassung fürchten weniger als 20 Prozent der Befragten. Derartige Ängste sind nicht erstaunlich. Im Falle einer plötzlichen Kündigung bleiben 42 Prozent der Bürger Russlands ohne Ersparnisse. 23 Prozent der Befragten reichen die Mittel für maximal drei Monate, teilten die Forscher mit.

Das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung prognostiziert, dass entsprechend den Jahresergebnissen der Rückgang der Realeinkommen der Russen 3,8 Prozent ausmachen werde. Unabhängige Wirtschaftsexperten nehmen an, dass die Bürger Russlands zum Lebensniveau von 2019 nicht früher als im Jahr 2023 zurückkehren werden können. „Alle Prognosen besagen, dass bis Ende 2021 die russische Wirtschaft nicht bis zum Stand von 2019 wiederhergestellt wird. So gut, wie die russischen Bürger im Jahr 2019 gelebt haben, werden sie sicher erst in den Jahren 2022-2023 leben“, sagte Sergej Gurijew, Wirtschaftsprofessor am Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po), in einem Interview des Hörfunksenders „Echo Moskaus“. Laut Prognosen des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung werde Russlands Wirtschaft bis Ende 2020 um weitere 5 Prozent schrumpfen, erinnerte er. Dabei seien für die Wiederherstellung von sechs Prozent der Wirtschaft drei bis vier Jahre erforderlich, sagte Gurijew.  

Die Experten der „NG“ bringen den Abfluss gerade von Fern-Beschäftigten vom Arbeitsmarkt mit mehreren Faktoren in Verbindung. Nach Aussagen des Geschäftsführers des Personalunternehmens UNITY, Felix Kugel, hätten diesen Prozess sowohl die Aufhebung des Regimes der Selbstisolierung als auch die Besonderheiten des Business beeinflusst. Letztere würden nicht erlauben, vollkommen zu einer Fern-Beschäftigung überzugehen. „Ein ständiges Homeoffice-Regime ist für Unternehmen aus verschiedenen Wirtschaftsbereichen — für Produktionsunternehmen, kleine Nähereien, Anwaltsfirmen, die Klienten vor Gericht verteidigen, und IT-Firmen, die sich mit der Entwicklung und dem Testen von Software sowie der Wartung von IT-Infrastrukturen befassen – nicht aktuell“, betont Kugel.

Der Experte schließt gleichfalls nicht aus, dass die rasche Rückkehr zur Büroarbeit auch mit der geringen Effektivität der Mitarbeiter, die von zu Hause aus arbeiten, zusammenhänge. „Laut einer Untersuchung von UNITY haben die Mitarbeiter, die zum Homeoffice-Regime übergegangen waren, auf unterschiedliche Art ihre Leistung bewertet. 45 Prozent sind der Auffassung, dass sie sowohl zu Hause als auch im Büro gleichermaßen effektiv arbeiten würden. 26 Prozent sind der Annahme, dass im Homeoffice-Regime die Arbeitseffizienz zurückgegangen sei. 29 Prozent der Befragten behaupten, dass sie zu Hause produktiver seien und bei der Fern-Beschäftigung die Arbeitseffizienz gestiegen sei“, erzählt Felix Kugel, wobei er unterstreicht, dass die Arbeitgeber über die Entfernung effektiver den Beitrag eines jeden Mitarbeiters zum Arbeitsprozess bewerten konnten.  

Allerdings war noch bis vor dem Coronavirus der Anteil der im Homeoffice Arbeitenden in Russland um ein Mehrfaches geringer als in vielen entwickelten Ländern, betont Ludmilla Iwanowa-Schwez, Dozentin der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität. „Viele Unternehmen haben sich keine Gedanken über eine Umstellung von Arbeitsplätzen auf eine Fern-Beschäftigung gemacht, weil dies ihrer Auffassung nach kein effektives Arbeiten fördere und keine Möglichkeit gewähre, im Zuge der Erfüllung der Arbeitsfunktionen exakt zusammenzuwirken. Auch fördern nicht dies die ineffizient gestalteten Business-Prozesse und die billige Arbeitskraft. Daher versuchen auch viele nicht, über ein Sparen bei der Organisierung von Arbeitsplätzen nachzudenken. Aber wie die erzwungene Selbstisolierung gezeigt hat, kann man im Homeoffice-Regime arbeiten. Und sogar durchaus effizient und produktiv. Und sogar ein Drittel der im Homeoffice-Regime im April und Mai Arbeitenden ist bereit, zu Hause zu bleiben“, erzählt sie.  

Diejenigen, die nicht bereit sind, zu Hause zu bleiben, haben dafür auch ihre Gründe. „Unangemessene Arbeitsbedingungen von Zuhause aus, Einschränkungen für das Karrierewachstum, eine schwache Motivation, die Unmöglichkeit, sich als Teil des Kollektivs zu fühlen, der Wunsch nach Kommunikation u. a.“, zählt die Wirtschaftsexpertin auf. „Im Ergebnis wollen die Unternehmen nicht über eine Organisierung von Homeoffice-Arbeitsplätzen nachdenken“, fährt sie fort. Und die Arbeitnehmer andererseits seien auch nicht zu einer Fern-Beschäftigung bereit. „Damit der Anteil der im Homeoffice-Regime Arbeitenden genau solch einer ist wie in anderen Ländern, werden klar verankerte Normen für das Zusammenwirken, entwickelte digitale Technologien und ein kluges Management, das effiziente Businessprozesse gestaltet, gebraucht. Nun, und die Arbeitnehmer müssen dazu bereit sein und ihre Vorteile aus solch einem Arbeitsregime begreifen“, resümiert Ludmilla Iwanowa-Schwez.