Die Soziologen des staatlichen Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung (VTsIOM) haben einen beispiellosen Aufschwung der patriotischen Stimmungen unter den Bürgern Russlands ausgemacht. Laut den Ergebnissen ihrer Umfrage würden sich 62 Prozent „unbedingt“ als Patrioten Russlands ansehen. Weitere 32 Prozent antwortete auf die entsprechende Frage mit „eher ja“. Die Varianten „eher nicht“ und „unbedingt nicht“ sind zusammen auf drei Prozent gekommen. In den 20 Jahren, in denen das VTsIOM Befragungen mit solchen Formulierungen durchführt, hatte es kein derartiges Dominieren der Patrioten gegeben.
Der Unterschied zwischen den Antworten „zweifellos ja“ und „eher ja“ besteht darin, dass im ersten Fall die Menschen allem Anschein nach antworten, ohne sich Gedanken zu machen. Und im zweiten Fall machen sie sich jedoch aus irgendeinem Grunde Gedanken, bekräftigen aber die Meinung, dass sie Patrioten seien. Es ist schwierig, den Verlauf dieser kurzen Überlegungen zu rekonstruieren. Dafür ist eine zusätzliche Vertiefung nötig. Doch die Befragung des VTsIOM erlaubt es nicht. Die Soziologen baten die Befragten gleichfalls aufzuzählen, was ihnen in den Sinn kommt, wenn sie von der Heimatliebe hören. Als Antwort wird das genannt, was wohl keiner anfechten würden – die Liebe zur Familie, zu dem Ort, wo der Mensch geboren wurde, der Stolz auf das Land, die Bereitschaft es zu verteidigen und ihm zu helfen sich zu entwickeln.
Es ist schwer, auf die Frage nach dem Patriotismus mit einem Nein zu antworten, wenn der natürliche Ansatz akzeptiert wird, dass jeder ihn auf die eigene Art und Weise begreift. Das Archiv der entsprechenden Meinungserhebungen zeigt, dass die Befragten in den früheren Jahren einfach meistens eben jene Pause für eine Reflexion eingelegt hatten. Im Jahr 2020 beispielsweise waren 46 Prozent „unbedingt“ bereit, sich als Patrioten Russlands zu charakterisieren, und 43 Prozent waren „eher“ dazu bereit. Interpretieren kann man dies auf unterschiedliche Weise. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sich der Kontext auswirkt. Unter den Bedingungen dessen, dass der Mensch jeden Tag von einer Konfrontation mit dem Westen, von „ausländischen Agenten“ und darüber, dass Russland von Feinden umringt sei, hört, antwortet er häufiger automatisch bejahend auf die Frage nach dem Patriotismus. Dies wird einfach als ein erwünschtes, ein zu billigendes Verhalten aufgefasst. Das Prinzip der Anonymität soziologischer Untersuchungen hat keiner aufgehoben. Doch die Menschen glauben nicht unbedingt an seine Einhaltung.
Woher kommen die Antworten „Nein“? Im Zeitraum der Jahre 2011 und 2016 waren beispielsweise zwölf bis 14 Prozent der Befragten „eher“ nicht bereit, sich als Patrioten zu bezeichnen. Dass heutzutage solche Antworten weitaus weniger gegeben wurden, kann man mit der oben beschriebenen Konjunktur erklären. Die Sache ist die, dass in den russischen Diskussionen das Wort „Patriot“ mehr als „Mensch, der seine Heimat liebt“ bedeutet. Patriotismus wird nicht selten als eine durchaus verständliche, als eine sogar konkrete politische Position aufgefasst, die dem Westlertum, dem Liberalismus usw. entgegengesetzt ist. Der sich herausgebildete Kontext ist teilweise durch diese Gegenüberstellung hervorgebracht worden: Wenn du die westlichen Werte unterstützt, die Offiziellen in Russland kritisiert, so bist du kein Patriot.
Die vom VTsIOM befragten Personen sprachen über die Liebe zur Heimat, erinnerten aber recht selten an eine Unterstützung für die Regierung, den Präsidenten und die Politik des Staates (drei Prozent). Es scheint, dass es hier auch an einer präziseren Frage der Soziologen mangelte. Der „politische“ Patriotismus in der Russischen Föderation setzt voraus, dass die Bürger die Politik der Herrschenden unterstützen. Im sozial-ökonomischen Bereich gibt es einen Meinungspluralismus. Zulässig ist zum Beispiel der Wunsch, vom Staat mehr Wohltaten und Garantien zu erhalten. Aber was die Außenpolitik und jetzt auch noch die moralischen, die geistigen Werte angeht, so soll die Unterstützung eine vollkommene sein. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass auf eine direkte Frage des staatlichen Meinungsforschungszentrum VTsIOM über eine Verbindung zwischen Patriotismus und Loyalität gegenüber dem Staat in diesen Fragen die Antwort meistens eine bejahende gewesen wäre.
Indirekt demonstriert das Archiv der VTsIOM-Umfragen eine Transformation der politischen Konjunktur im Land und deren Einfluss auf die Bürger. Bereits in den 2010er Jahren wurde der Patriotismus nicht bloß als Liebe zur Heimat begriffen, sondern als eine Markierung der Ideologie der herrschenden Elite. Anfangs waren jene mehr, die sich bewusst dem widersetzten und keine Scheu hatten, darüber zu sprechen. Mit jedem Jahr (und besonders heutzutage) wird die Zahl solcher Menschen immer geringer.