Die Eskalation des russisch-weißrussischen Konflikts erhöht das Risiko für eine Entwicklung der Situation entsprechend dem ukrainischen Szenario mit einem vollständigen Abbruch der Beziehungen zwischen unseren Ländern. Russland kann in Weißrussland ganz plötzlich umgerechnet über 20 Milliarden US-Dollar verlieren. Diese Summe berücksichtigt eine wahrscheinliche Weigerung von Minsk, die Schulden zurückzuzahlen, darunter auch für die Errichtung des Weißrussischen AKW. Moskau verliert in Weißrussland gleichfalls die militärische Infrastruktur einschließlich der Hantsavichy-Frühwarnradaranlage und des Fernmeldeknotenpunkts für die Verbindungen mit U-Booten. Probleme ergeben sich auch für den Transit russischer Energieträger.
Die derzeitige Führung Weißrusslands hat einen Weg der Zuspitzung der Beziehungen mit Russland gewählt. Wobei dies nicht nur in der Rhetorik, sondern auch hinsichtlich der praktischen Wirtschaftsschritte. Minsk weigert sich faktisch, das verbrauchte russische Erdgas zu bezahlen, und demonstriert die Bereitschaft, sich russische Vermögen und Anlagen auf seinem Territorium anzueignen. Wenn sich die Logik des Anhebens der Einsätze und einer ständigen Eskalation nicht ändert, so werden ein Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen und der Übergang zu einer breiteren Konfrontation zu höchst wahrscheinlichen.
Bei einer Entwicklung des weißrussisch-russischen Konflikts entsprechend dem ukrainischen Szenario ist ein Abgehen der weißrussischen Offiziellen von ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber Russland zu erwarten. Gerade solch einen Weg hat Kiew bereits beschritten, das sich geweigert hatte, Russland die sogenannten Janukowitsch-Schulden in einer Höhe von mehr als drei Milliarden Dollar zurückzuzahlen. Und weitere drei Milliarden Dollar klagte Kiew bei „Gazprom“ ein, ohne für das aus Russland bekommene Gas bezahlt zu haben.
Die Möglichkeiten von Minsk, sich russische Gelder anzueignen, sind aber weitaus größer. Die Auslandsverschuldung von Weißrussland gegenüber Russland übersteigt 7,5 Milliarden Dollar. Dazu kommt, dass die weißrussischen Regierenden ein 10-Milliarden-Dollar-Kreditabkommen für den Bau des Weißrussischen AKW entsprechend einem russischen Projekt unterzeichneten. Im Falle eines Abbruchs der Beziehungen wird Russland mit großer Wahrscheinlichkeit dieser Gelder nie wieder sehen.
Bei einer Ausuferung des Konflikts verliert Russland die Möglichkeit einer Nutzung des Fernmeldeknotenpunkts für die Verbindungen mit den Atom-U-Booten in den Bereichen des Atlantischen, des Indischen und Pazifischen Ozeans. Bei diesem Sendezentrum „Wilejka“ der russischen Marine im Minsker Verwaltungsgebiet handelt es sich um ein Antennenfeld auf einer Fläche von über 600 Hektar, das eine Signalübertragung über zehntausende Kilometer hinweg gewährleistet. Genau den finanziellen Schaden durch den Verlust des Zugangs zu diesem Objekt abzuschätzen, ist schwierig. Es geht aber wahrscheinlich um mehrere Milliarden Dollar.
Nicht weniger Verluste wird Russland auch im Falle eine Beendigung des Zugangs zur Radarstation vom Typ „Wolga“ im Gebiet der Stadt Baranavichy, die zum russischen System zur Warnung vor einem Raketenangriff gehört, erleiden. Somit können entsprechend vorsichtigster Berechnungen die Verluste Russlands innerhalb kurzer Zeit im Falle eines Abbruchs der Beziehungen mit Weißrussland 20 Milliarden Dollar übersteigen.
„Die Situation mit Weißrussland sieht recht kompliziert aus. Und beim schlimmsten Szenario erwartet uns genau solch ein Abbruch der Beziehungen wie auch mit der Ukraine. Im Endergebnis kann man nicht nur eine Ablehnung der Rückzahlung der Schulden, eine Nationalisierung der militärischen Infrastruktur der Russischen Föderation und ein Verbot für den Öl- und Gas-Transit erwarten, sondern auch einen Anstieg der Preise für die Waren, die in Weißrussland hergestellt werden“, sagt Jekaterina Nowikowa, Dozentin an der Russischen G.-V. Plechanow-Wirtschaftsuniversität. Sie lenkt das Augenmerk darauf, dass in den letzten drei Jahren rund 42 Prozent des Jahresexports von Weißrussland auf Russland entfallen.
„Russlands Verluste im Falle einer Trennung mit Weißrussland werden riesige sein. Doch sie werden immer noch geringer ausfallen als die Verluste Weißrusslands“, nimmt Wladimir Scharikhin, stellvertretender Direktor des Instituts für die GUS-Länder, an. Dabei erinnert er daran, dass ungeachtet der Konfrontation Russlands und der Ukraine diese Länder den Handel fortsetzen und den Transit von Energieträgern nach Europa gewährleisten. Freilich weist Scharikhin darauf hin, dass der Abbruch der Beziehungen mit Russland der Ukraine sehr teuer zu stehen kam, da sie faktisch ganze Sektoren ihrer Industrie verloren hat.
Der stellvertretende Direktor des Instituts für die GUS-Länder erkennt die besondere geopolitische Lage Weißrusslands und die Kompliziertheit der Entscheidung, die vor ihm steht, an. „Russlands Problem besteht darin, dass wir unseren Verbündeten keine gehaltvolle und attraktive Alternative bieten. Wir schlagen den Verbündeten vor, im Rahmen der Regeln des modernen Kapitalismus zusammenzuarbeiten. Warum aber sollen unsere Verbündeten die russische Version dieser Regeln und nicht das europäische oder amerikanische Original als attraktiv ansehen?“, fragt Scharikhin.