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Paschinjan nötigt die Armenische Kirche zu Gehorsam


 

 

Mit der Teilnahme an einer oppositionellen politischen Tätigkeit ist die Armenisch-Apostolische Kirche mit ernsthaften Risiken für das Ansehen konfrontiert worden. Die Bewegung „Tawusch für die Heimat“, die von dem Erzbischof Bagrat Galstanjan, der zwar von einem geistlichen Dienst entbunden worden ist, angeführt wird, wird in eine immer brutalere Konfrontation mit Rechtsschützern und Politikern, die treu zu Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan stehen, involviert. Galstanjan fordert bereits nicht bloß einen Rücktritt des Premiers, sondern führt seine Leute zu einem Sturm auf die Bastionen der Herrschenden.

Am 12. Juni hatten Protestierende versucht, entweder Paschinjan im Gebäude der Nationalversammlung (des Parlaments) zu blockieren, oder ihn vor ein „Volksgericht“ unter dem Vorsitz von Galstanjan zu bringen, der endlose Kundgebungen vor Verwaltungsgebäuden veranstaltet. Die Polizei antwortete den Protestierenden mit Festnahmen und Versuchen eines gewaltsamen Auseinandertreibens der Aktion. Der geistliche Anführer an sich kam physisch nicht zu Schaden, aber Paschinjan und seine Gleichgesinnten zogen mit zornigen Reden über die Kirchenvertreter her. Sie behaupten, dass hinter allen Protestaktionen, die nicht das erste Mal mit Zusammenstößen enden, das Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, der Katholikos aller Armenier Garegin II., persönlich stehen würde.

Am folgenden Tag trat in Etschmiadsin, dem religiösen, historischen und Verwaltungszentrum der Armenisch-Apostolischen Kirche, unter dem Vorsitz des Katholikos der Oberste geistliche Rat zusammen. Die Bischöfe verabschiedeten eine Erklärung, die einerseits unzweideutig die oppositionelle politische Bewegung unterstützt, andererseits aber eine direkte Beteiligung des Klerus an den Protestveranstaltungen leugnet.

„Die Politik, die von den Offiziellen der Republik Armenien in der Nachkriegsperiode verfolgt wird, und besonders die jüngsten einseitigen territorialen Zugeständnisse, die unter dem Vorwand des Prozesses einer Demarkation und Delimitation erfolgten, haben eine neue ernsthafte Besorgnis sowohl in der Heimat als auch in der Diaspora ausgelöst, wobei Misstrauen provoziert wurde, das zur Forderung nach einem Rücktritt von Armeniens Premierminister führte“, heißt es in einer Erklärung. Die Regierung von Paschinjan realisiert gegenwärtig mit Aserbaidschan einen Prozess zur Abstimmung einer von beiden Seiten anerkannten Staatsgrenze, unter anderem in der Region Tawusch, von der der Name der oppositionellen Bewegung stammt. Galstanjan war der amtierende Erzbischof der Diözese von Tawusch, bevor er sich Ende Mai an den Katholikos mit der ungewöhnlichen Bitte wandte, das geistliche Wirken auf Eis zu legen, solange sich der Erzbischof mit Politik befasst. Etschmiadsin erfüllte diese Bitte, entband Galstanjan von der Leitung der Diözese, beließ ihm aber den geistlichen Titel.

Die Demarkation der Grenze begründen die Offiziellen mit dem Bestreben, noch einen Krieg zu vermeiden. Die Opposition wirft aber Paschinjan und seinen Anhängern Defätismus vor. Dem Premier lastet man auch die Liquidierung der nichtanerkannten Republik Bergkarabach an, die die Armenier Arzach nennen. Gerade nach dem emotionalen Auftritt von Paschinjan am 12. Juni in der Nationalversammlung, bei dem er die politischen Gegner des Strebens bezichtigte, das Problem der Flüchtlinge aus Arzach für ihre merkantilen Interessen auszunutzen, begannen die Zusammenstöße auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude.

In der Nationalversammlung zog Paschinjan über all seine Opponenten her, darunter über Galstanjan. Der Erzbischof trat vor einer Menschenmenge auf und forderte den Premier zu einem Treffen auf. Der Regierungschef äußerte sich recht grob über diesen Appell, der überdies dadurch gereizt war, dass der Geistliche seit dem Frühjahr seinen Rücktritt verlangt. „Wir werden uns treffen, wir treffen uns, wir werden uns treffen. Nun los, treffen wir uns! Ich würde mich treffen. Und was dann? Sie wollen sagen, dass es für den Premierminister der Republik Armenien problematisch ist, sich mit wem auch immer zu treffen? Wenn er sich treffen wollen würde, würde er anweisen, ihn in einen Kofferraum zu pferchen und zu mir zu einem Treffen zu bringen“, zitiert die Internetseite des russischen Staatsfernsehens www.vesti.ru die Worte von Paschinjan.

Später warf Paschinjan Garegin II. vor, dass dieser die Unruhen und die Angriffe auf Polizisten am 12. Juni „abgesegnet“ hätte.

Die Erklärung des Obersten geistlichen Rates der Armenisch-Apostolischen Kirche verfolgt unter anderem das Ziel, die Anschuldigungen der Offiziellen zurückzuweisen, wonach die Kirche eine Konfrontation in der Gesellschaft provoziere. „Wir verurteilen die Versuche der Machtvertreter und ihrer Anhänger, der Kirche die Verantwortung für die Organisierung der Meetings zuzuschreiben“, erklärten die Bischöfe. „Damit versuchen diese Personen, ihr kirchenfeindliches Verhalten zu rechtfertigen, wobei die Provokation gegen den Katholikos aller Armenier und gegen Geistliche im Gedenkkomplex „Sardarapat“ am 28. Mai zu einer der Erscheinungen dieses Verhaltens geworden war“. Hier ist ein Zwischenfall gemeint, bei dem die Polizei Garegin II. nicht sofort in den Gedenkkomplex ließ, der der Schlacht von Sardarapat von 1918 gewidmet ist, in der die Armee des zu jener Zeit unabhängigen Armeniens die Truppen der Türkei gestoppt hatte.

Die Regierung von Paschinjan besitzt besonders schlechte Beziehungen mit der Kirche, nachdem sie (die Regierung) es abgelehnt hatte, Bergkarabach mit Waffengewalt zu unterstützen, wobei sie auf keinen Erfolg gehofft und befürchtet hatte, dass Baku dieses Eingreifen als Anlass für einen Krieg bereits gegen Armenien an sich auffassen wird. Im vergangenen Mai bezeichnete Armeniens Premierminister die Armenisch-Apostolische Kirche als einen „Agenten zur Ausübung von Einfluss“. „Das armenische Volk hatte Erfahrungen besessen, als sie (die Kirchenvertreter – Anmerkung der Redaktion) nach Kesaria gezogen waren und geweiht wurden, aber nachdem sie nach Armenien gekommen waren, wurden sie zu Agenten für eine Einflussnahme. Es scheint, dass sich bei ihnen seitdem nichts verändert hat. Wir werden aber diese Frage innerhalb von zwei, drei Monaten klären“, sagte der Kabinettschef. Wahrscheinlich hatte Paschinjan die ganz frühe Periode der Geschichte des armenischen Christentums im Blick, als die geistlichen Führer des Volkes von den Byzantinern eine Weihe in Kesaria von Kappadokien, das sich in Kleinasien befand, erhalten hatten. Heute ist dies die Stadt Kayseri in der Türkei. Jedoch ist unverständlich, worin der Vorwurf besteht, denn dies erfolgte in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts, lange vor dem Konzil von Chalcedon (im Jahr 451), als sich die Wege der byzantinischen und der armenischen Theologie trennten. Zu jener Zeit hätten die armenischen Katholikosse wohl kaum auf eine vollkommene Eigenständigkeit und Unabhängigkeit vom weltweiten Zentrum des östlichen Christentums Anspruch erheben können.

Schließlich hatte Armenien gegen das zoroastrische Persien gekämpft. Und es ging um eine Unterstützung für das mächtige Imperium. Später suchten die Armenier nach einem Beistand sowohl in der westlichen Kirche als auch bei den westlichen Staaten, obgleich auch dies ohne besonderen Erfolg. Derart ist das historische Schicksal dieses Volkes, das sich unter dem Einfluss der Kirche, die eigenständige theologische Prinzipien predigte, entwickelt hatte. Bis zu einer gewissen Zeit bedeutete, ein Armenier zu sein, ein Gläubiger der Armenisch-Apostolischen Kirche zu sein. Und erst Ende des 12. Jahrhunderts hat der Teil dieser Kirche in Kleinasien einen Bund mit Rom geschlossen. Und seitdem existieren armenische Gemeinden im Rahmen des Katholizismus. Erheblich später entstanden protestantische Gemeinschaften. Besondere Verbreitung fanden sie nach den Verfolgungen der Armenier im Ottomanischen Reich Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. Damals hatten amerikanische Missionäre den Flüchtlingen aktiv geholfen.

Die Andeutung von Paschinjan ist natürlich verständlich. Er zieht Parallelen zwischen dem Byzantinischen Reich und dem heutigen Russland. In der Regierung ist man der Auffassung, dass die Opposition durch die repräsentative und große armenische Gemeinschaft in der Russischen Föderation unterstützt werde. Die Vertreter der Tawusch-Bewegung verneinen dies verständlicherweise.

Eine andere historische Gesetzmäßigkeit: Die armenische Staatlichkeit wurde ständig mit der Gefahr eines Überfalls der mächtigen Nachbarn bedroht. Zu bestimmten Zeiten der Geschichte verlagerte sich das politische Zentrum des Volkes in andere Gebiete, die sich vom heutigen Armenien unterscheiden. Zum Beispiel in das kleinasiatische Gebiet Kilikien, mit dem eine bedeutende historische Epoche im Schicksal der Armenier verbunden ist. Mitunter hatte der Staat überhaupt zu existieren aufgehört. Und da hatte die nationale Kirche vollkommen die vereinigende Rolle übernommen.

Nach wie vor gelingt es der Armenisch-Apostolischen Kirche, die führende Rolle bei der Ausprägung der armenischen Identität zu bewahren, besonders außerhalb des Rahmens des Nationalstaates. Das alternative, das „atheistische“ Projekt des sowjetischen Armeniens ist schon längst beendet worden. Und nach mehr als 30 Jahren schlagt der Kreis von Politikern, den Nikol Paschinjan repräsentiert, eine Identität vor, der entsprechend die zivilstaatliche und politische Gemeinschaft in den von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannten Grenzen des Staates über der geistlichen Gemeinschaft dominiert.

Im April vergangenen Jahres hatte der Premier gewarnt: „Es gibt ein Thema, das in der Luft liegt. Sehr oft will man die Beziehungen der Regierung mit der Kirche als schlechte oder problematische darstellen. Ich werde eine lautstarke Erklärung abgeben: Wenn die Beziehungen der Kirche mit der Regierung schlechte sind, so sind die Beziehungen der Kirche mit Gott schlechte. Dies ist so entsprechend der christlichen Sichtweise“. Paschinjan spielte auf den Brief des Apostels Paulus an die Römer an: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt, jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes…“ (Röm 13, 1-2).

Unter solchen Bedingungen spürt die Kirche den Verlust ihrer Funktion als einen führenden Konstrukteur der nationalen Idee und schiebt Prozesse für eine Selbstbewahrung an. Diese Prozesse führen aber zu einer Konfrontation mit der politischen Elite, zu einer Konfrontation, die immer offenere und radikalere Formen annimmt.