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16 Jahre strenge Lagerhaft – mehr als ein Signal für westliche Journalisten in Russland


Nach nur zwei Gerichtsverhandlungen ist am Freitag, dem 19. Juli in Jekaterinburg ein spektakulärer Prozess an seinem dritten Tag zu Ende gegangen, der mehr als nur ein Signal vermittelt. Hinter verschlossenen Türen ging es um Vorwürfe des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB gegen den heute 32jährigen amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich. Er soll im Auftrag des CIA im Verwaltungsgebiet Swerdlowsk Spionage betrieben haben. Konkret soll er Informationen über die dortige russischen Panzerschmiede „Uralvagonzavod“ gesammelt haben, in der nicht nur Russlands derzeit modernster Panzer T-14 Armata gebaut wird, sondern auch andere Panzer und gepanzerte Fahrzeuge instandgesetzt werden. Dazu war Gershkovich im März vergangenen Jahres nach Jekaterinburg gereist und traf sich mit einigen potenziellen Interviewpartnern. Die Dienstreise endete jedoch schlagartig am 29. März im Restaurant „Bukowskij-Grill“, als ihn FBS-Mitarbeiter dort festnahmen und sofort nach Moskau überführten. Über 450 Tage wartete er in der berüchtigten FSB-U-Haftanstalt „Lefortowo“ auf seinen Prozess, in dessen Vorfeld er stets seine Unschuld beteuerte. Vergebens.

Am 26. Juni erfolgte der Prozessauftakt unter Leitung von Richter Andrej Minejew, wobei von Anfang unklar gewesen war, über wie viele Verhandlungstage sich das Verfahren hinziehen wird. Überdies erfolgten die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. Seitens der beiden Verteidiger Gershkovichs war nichts zu erfahren. Staatsanwalt Mikael Ozdojew hielt sich gleichfalls bedeckt. Beobachter wussten nur, dass die Anklage auf dem Paragrafen 276 des russischen Strafgesetzbuches (Spionage) beruhte und eine Freiheitsstrafe von bis zu 20 Jahren möglich war. Bekannt war gleichfalls, dass zuletzt 1986 der damalige Moskauer Büroleiter des Nachrichtenmagazins „U.S. News & World Report“ Nicholas Daniloff mit Spionagevorwürfen festgenommen worden war, freilich war es damals zu keinem Urteilsspruch gekommen. Nach wenigen Tagen wurde er freigelassen – im Austausch gegen einen kurz zuvor in den USA festgenommenen russischen Spion. Der Fall von Evan Gershkovich ist damit beispiellos – auch in der jüngeren russischen Geschichte.

Dies muss auch über die Geschwindigkeit des Prozesses gesagt werden. Zuerst wurde die zweite Verhandlung überraschend vom 13. August auf den 18. Juli vorverlegt. Und am vergangenen Freitag erfolgten nach scheinbar kurzen Abschlussplädoyers und dem Schlusswort des jungen Amerikaners der Urteilsspruch. Da kamen natürlich berechtigte Fragen auf. Zum Beispiel die Frage nach den Zeugen. Wer wurde von der Anklage und wer von der Verteidigung befragt? Bekannt ist lediglich, dass Wjatscheslaw Wegner, Abgeordneter des Regionalparlaments mit dem Mandat der Kremlpartei „Einiges Russland“, im Prozessverlauf Aussagen machte. Lt. einige russischen Quellen soll es ebenfalls andere Zeugen der Anklage gegeben haben. Eine andere Frage betrifft die Anwesenheit amerikanischer Diplomaten. Nur zum Auftakt der Verhandlungen waren zwei Konsularbeamte erschienen, während am Tag des Urteilsspruchs nur der britische Generalkonsul in Jekaterinburg Ameer Kotecha im Gericht gesichtet wurde. Aus der Moskauer US-Botschaft – keiner, während bei den Haftprüfungsverhandlungen in der russischen Hauptstadt stets amerikanische offizielle Vertreter inklusive Botschafterin Lynne M. Tracy erschienen waren.

Am späten Freitagnachmittag kam nun in der Millionenstadt im Ural der Urteilsspruch. 16 Jahre strenge Lagerhaft verkündete Richter Minejew, womit er die von der Anklage geforderte Haftdauer von 18 Jahren um zwei Jahre verringerte, aber der Position der Staatsanwaltschaft beipflichtete: Der Wall-Street-Journalist-Reporter habe Spionage betrieben, was durch die vorgelegten Beweismaterialien eindeutig nachgewiesen worden sei.

Bereits im Vorfeld war die entsprechende Atmosphäre durch russische offizielle Vertreter für dieses harte Urteil geschaffen worden. Außenminister Sergej Lawrow erklärte beispielsweise am 17. Juli in New York, dass der Einsatz von Journalisten für geheimdienstliche Zwecke – zumindest in der angelsächsischen Tradition – absolut natürlich sei. „Wir haben unwiderlegbare Beweise dafür, dass E. Gershkovich Spionageaktivitäten vorgenommen hat“. Aus dem Kreml gab es zum Beispiel von Präsident Wladimir Putin im Interview für den Ex-Fox-TV-Journalisten Tucker Carlson im vergangenen Februar ähnliche Aussagen.

Am 478. Tag nach der Gershkovich-Festnahme ist der umstrittene Prozess zu Ende gegangen. Ein Schlusspunkt ist jedoch nicht gesetzt worden, denn im Verlauf von 15 Tagen kann gegen den Urteilsspruch Berufung eingelegt werden. Wie die Verteidiger handeln werden, ist am Freitag unklar geblieben, da sie nicht vor die Pressevertreter getreten waren. Eva Merkatschjowa, Journalistin der hauptstädtischen Zeitung „Moskowskij Komsomolez“ und Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen, meinte aber: Erst nach Inkrafttreten des Urteils werde Gershkovich aus Jekaterinburg in ein Straflager gebracht, möglicherweise in der russischen Teilrepublik Mordowien, wo die meisten verurteilten ausländischen Bürger ihre Strafen verbüßen. Zum Beispiel Paul Whelan aus den USA, der im Juni 2020 zu 16 Jahren Haft wegen Spionage verurteilt worden war.

Was bedeutet das Gershkovich-Urteil für die in Russland offiziell akkreditierten ausländischen Journalisten, aber auch für ihre russischen Kollegen? Sensible Themen, vor allem in Bezug auf den Ukraine-Konflikt und die Rüstungsindustrie werden immer mehr zu einem Tabu. Gleiches gilt für russische Ressourcen und Vorräte an Erdöl, Erdgas sowie anderen Bodenschätzen, die ohnehin schon oft einer Geheimhaltung unterliegen. Recherchen unter Verwendung offener Informationsquellen können durch offizielle Behördenvertreter schnell als Spionage ausgelegt werden, was erst jüngst wieder in Bezug auf Lithium-Lagerstätten in der Russischen Föderation deutlich wurde. Und journalistisches Arbeiten erfolgt offensichtlich immer mehr unter „Big-Brother“-Bedingungen, so dass man beinahe jedes Wort, jede Aussage genau abwägen muss.

Der Urteilsspruch gegen den 32jährigen Gershkovich hat international scharfe Kritik ausgelöst. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell meinte, dass Russland „sein politisiertes Rechtssystem zur Bestrafung des Journalismus“ nutze. Europaparlamentspräsidentin Roberta Metsola nannte den Wall-Street-Journal-Reporter Opfer eines „Scheinprozesses“. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte im Onlinedienst X: „Journalismus ist kein Verbrechen, und die Wahrheit lässt sich nicht wegsperren. … Die Verurteilung von Evan Gershkovich zeigt Putins Angst vor der Kraft von Fakten. … Das Urteil ist politisch motiviert und Teil von Putins Kriegspropaganda“. „Diese schändliche Verurteilung erfolgt, nachdem Evan 478 Tage im Gefängnis verbracht hat – zu Unrecht inhaftiert, von seiner Familie und seinen Freunden getrennt und an der Berichterstattung gehindert – und das alles nur, weil er seine Arbeit als Journalist getan hat“, betonten am Freitag der Herausgeber des „Wall Street Journal“, Almar Latour, und Chefredakteurin Emma Tucker.

Derweil hat US-Präsident Joe Biden versprochen, dass die US-Regierung weiterhin für Gershkovichs Freilassung kämpfe. Hinter den Kulissen soll verhandelt werden. Nach offiziellen russischen Angaben laufen Verhandlungen mit den USA über einen Austausch von Gershkovich gegen einen russischen Inhaftierten. „Die Geheimdienste Russlands und der USA unterhalten in Absprache mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem US-Präsidenten J. Biden vom Juni 2021 Kontakte, um zu sehen, ob man jemanden gegen jemanden austauschen kann. Alle wissen ausgezeichnet, dass dieses Thema keine Hektik mag“, sagte so am Mittwoch der russische Außenminister Lawrow in New York. Angesichts dieser Statements deuten Beobachter in Moskau die schnelle Verurteilung als möglichen Hinweis darauf, dass es darüber bald eine Einigung geben könnte. In der Regel muss nach russischer Justizpraxis ein Urteil vorliegen, damit es zu einem Austausch kommt.

Zur „Austauschmasse“ Moskaus gehört im Übrigen auch der bereits erwähnte Paul Whelan. Während die Journalistin Alsu Kurmaschewa (von Radio Liberty mit einer russischen und US-Staatsbürgerschaft) wohl vorerst außen vor ist. Sie wurde Ende Oktober 2023 verhaftet, weil sie angeblich militärtechnische Informationen und Angaben zu Teilnehmern am Ukraine-Krieg gesammelt haben soll. Und bisher ist unklar, wann es zu einem Prozess gegen die 47jährige Reporterin kommen wird. Spekulativ sieht dagegen der Gedanke aus, dass der Kreml vielleicht den Tiergarten-Mörder freipressen wolle. Wadim Krassikow, der im August 2019 den Tschetschenen Selimchan Changoschwili erschoss und dafür im Dezember 2021 zu einer lebenslänglichen Haft in Berlin verurteilt wurde, müsste da von Deutschland im Interesse der Vereinigten Staaten freigelassen werden. Solch eine Variante erscheint freilich als eine wenig wahrscheinliche.