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Unterstützung für Niqab-Verbot in Russland nimmt zu


Was vor Jahren in Moskau beinahe undenkbar gewesen war, wird heutzutage nach und nach zu einer Realität: In immer mehr Stadtbezirken der Millionen-Metropole sind Frauen mit einem Niqab (einem Gesichtsschleier, der nur für die Augen einen schmalen Schlitz aufweist) zu sehen. Auffällig ist dabei, dass es vor allem junge moslemisch geprägte Frauen sind, die sich so verhüllen. Und während sich die Einheimischen, sprich: Russen an das islamische Kopftuch, den Hijab, gewöhnt haben (viele Gastarbeiterinnen aus den mittelasiatischen Republiken tragen ihn offen und ohne Scheu), lösen die Niqabs unterschwellig Ablehnung aus. Die wird jedoch kaum öffentlich artikuliert. Begleitet wird dies aber durch gewisse Ängste, so dass zum Beispiel in der hauptstädtischen Metro manche Passagiere Frauen mit Niqabs ausweichen. Offensichtlich erinnern sie sich dabei an die Selbstmord-Attentäterinnen (Schachidinnen), die vor vielen Jahren Terrorakte in der U-Bahn verübt hatten.

Heutige Ängste und Furcht werden von Terrorakten gefördert, die Russland in diesem Jahr erlebte. Erinnert sei sowohl an den Terrorakt im Konzerthaus „Crocus City Hall“ am 22. März am Moskauer Stadtrand oder an die Anschlagsserie vom 23. Juni in der russischen Teilrepublik Dagestan, die von islamistischen Terroristen verübt wurden. Andere, z. B. am Busbahnhof von Jessentuki in der Verwaltungsregion Stawropol oder gegen eine orthodoxe Kirche in Maikop, konnten in diesem Monat durch den russischen Inlandsgeheimdienst FSB vereitelt werden. Dabei teilte der FSB mit, dass der „Islamische Staat“ hinter den rechtzeitig verhinderten Anschlägen gestanden habe. Auffällig ist dabei, dass Männer aus Mittelasien als Verdächtige festgenommen wurden.

Vor diesem Hintergrund sucht man in Russland nach Antworten auf die Fragen, wie es zu solch einer Entwicklung kommen konnte. Wie konnte sich beispielsweise das Kaukasus-Vilayat des „Islamischen Staates“ in der Republik Dagestan etablieren? Welche Rolle spielen die Migranten aus den zentralasiatischen Republiken Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisien bei der Entwicklung und Verbreitung islamischen terroristischen Gedankengutes? Beobachter konstatieren: Offensichtlich haben die Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane bei der Prävention versagt. Andererseits belegen Statistiken des russischen Innenministeriums, dass eigentlich viele Fälle registriert werden. Allein im vergangenen Jahr wurden 209.000 Protokolle zu Handlungen von Gastarbeitern erstellt, die die öffentliche Sicherheit und Rechtsordnung gefährdeten. 498 Protokolle zu Taten einer extremistischen Ausrichtung. Dabei konstatiert man im Innenministerium, dass „derartige Fakten in der russischen Gesellschaft umfangreich diskutiert werden und eine Zunahme sozialer Spannungen unter der alteingesessenen Bevölkerung Russlands sowie die Ausprägung einer negativen Haltung gegenüber ausländischen Bürgern fördern“.

Es überrascht also nicht, dass die Diskussion um ein Verbot von Niqabs in der Öffentlichkeit in Russland in eine neue Runde geht. Wladislaw Dawankow, stellvertretender Vorsitzender des russischen Unterhauses (Staatsduma) und Vertreter der Partei „Neue Leute“, legte bereits einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Dabei weiß er darum, dass er mit dieser Initiative nicht allein ist. Schließlich haben auch Alexander Bastrykin (Leiter des Untersuchungskomitees der Russischen Föderation) und Valerij Fadejew (Vorsitzender des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen) ähnliche Gedanken und Vorschläge unterbreitet. Und in Dagestan und in der Republik Karatschai-Tscherkessien wartete man erst gar nicht auf solch ein Verbotsgesetz und untersagte per Fatwas der Muftiate zeitweilig ein Tragen von Niqabs in der Öffentlichkeit.

Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut RUSSIAN FIELD legte dieser Tage Zahlen einer eigenen Untersuchung zu dieser Problematik vor. Online befragt wurden 1600 Bürger Russlands im Alter ab 18 Jahren in der ersten Juli-Dekade. Die Ergebnisse beeindrucken und lassen aufhorchen. 42 Prozent der Befragten erklärten, dass sie ganz bestimmt ein Gesetz über das Verbot von Niqabs unterstützen würden, 24 Prozent – wahrscheinlich. Dabei erklärten zwölf Prozent, dass sie solch ein Gesetz nicht unterstützen würden, während elf Prozent sich kategorisch dagegen aussprachen. Die Moskauer Soziologen ermittelten dabei, dass 61 Prozent der befragten Frauen für ein Niqab-Verbot waren, unter den Männern plädierten 72 Prozent für ein Verbot. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass vor allem Befragte über 30 Jahre für die Dawankow-Gesetzesvorlage waren. In der Altersgruppe 30 bis 44 Jahre sprachen sich 64 Prozent für ein Niqab-Verbot, in der Altersgruppe 45 bis 59 Jahre – 72 Prozent und in der Altersgruppe 60 Jahre und älter waren es 74 Prozent. Die größte Toleranz gegenüber einem Tragen von Gesichtsschleiern konstatierten die Soziologen unter jungen Menschen im Alter von 18 bis 29 Jahren. 36 Prozent plädierten gegen die Initiative für ein Niqab-Verbot, 49 Prozent unterstützten sie. RUSSIAN FIELD lenkte die Aufmerksamkeit auf noch einen Aspekt: In Moskau und Sankt Petersburg, wo die größte Konzentration von Einwanderern aus Mittelasien zu beobachten ist, waren 72 Prozent der Befragten für ein Verbot des Tragens von Niqabs. In Großstädten lag die Ablehnung bei 70 Prozent. Und je kleiner die Stadt oder Ortschaft desto geringer die Ablehnung, obgleich die Zahl 60 Prozent keine geringe ist.

Russlands Gesetzgeber beeilen sich vorerst nicht, die Gesetzesvorlage von Wladislaw Dawankow in der Staatsduma zu behandeln. Offenkundig will man die Auswirkungen des Niqab-Verbots, ausgesprochen durch die Muftiate von Dagestan und Karatschai-Terschkessien, auswerten, sich mit Vertretern der Geistlichen Verwaltung der Moslems Russlands konsultieren, aber auch mit anderen Vertretern der russischen Gesellschaft, denn oberste Priorität ist bei dieser Frage nicht nur eine Gewährleistung der Sicherheit, sondern auch des interkonfessionellen Friedens im Land.