Der Wahlsieg von Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko (auf jeden Fall des offiziell verkündeten) bringt erneut die Frage nach der Zukunft des Unionsvertrages auf die Tagesordnung. Er wurde am 2. April 1997 unterzeichnet und trat nach der Ratifizierung am 26. Januar 2000 in Kraft. Und es verstrichen zwei Jahrzehnte, doch ein gemeinsames Parliament und eine einheitliche Währung, die durch den Vertrag vorgesehenen wurden und wichtigste staatliche Attribute sind, sind aber nicht aufgetaucht.
Der Unionsstaat sollte zu einer gewissen Zelle oder funktionellen Struktur für die Gestaltung eines neuen staatlichen Gebildes um sie herum im postsowjetischen Raum warden. Es ist kein Zufall, dass Weißrussland ein unbedingter Beteiligter aller Vereinigungsstrukturen ist, die in den Jahren des Bestehens der Russischen Föderation geschaffen wurden. Zu den wichtigsten von ihnen gehören die GUS, die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) und die Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages (OKSV). Es überrascht nicht, dass nach den Wahlen in Weißrussland der russische Präsident Wladimir Putin Alexander Lukaschenko ein Telegramm sandte, wobei er mitteilte, dass er mit einer weiteren Entwicklung gegenseitig vorteilhafter russisch-weißrussischer Beziehungen in allen Bereichen, einer Vertiefung der Zusammenarbeit im Rahmen des Unionsstaates sowie einer Forcierung der Integrationsprozesse über die Linie der EAWU und der GUS, aber auch der militärpolitischen Kontakte in der OKSV rechne.
Im Westen hatte Lukaschenko gehofft, die Kontakte mit den USA nach einer 12-jährigen Periode einer drastischen Abkühlung der Beziehungen wiederherzustellen und die Wirtschaftsbeziehungen mit der Europäischen Union zu festigen. Doch diese Versuche sind scheinbar in eine Sackgasse greaten. Sowohl die EU, als auch die Vereinigten Staaten haben bereits die Verhaftungen der Lukaschenko-Opponenten vor den Wahlen verurteilt. Von Polen kamen die Vorschläge, gegen das Regime Sanktionen zu verhängen.
Doch weder die Europäische Union noch die USA können jetzt scheinbar Weißrussland nichts bieten, was zumindest irgendwie dessen Abhängigkeit von Russland kompensieren könnte. In einem Papier des Moskauer Carnegie-Zentrums schreibt beispielsweise Maxim Samorukow: „Mit den derzeitigen Zerwürfnissen und Krisen hat der Westen überhaupt keine Zeit für kühne Projekte im postsowjetischen Raum. Das Hauptziel ist, dass es nicht schlimmer werde. Und ein Sturz Lukaschenkos kann durchaus schlimmer sein und beispielsweise etwas Schlimmeres in Form einer russischen Intervention entsprechend dem ukrainischen Modell von 2014 provozieren“. Man kann der Meinung des Autors beipflichten, wonach „Lukaschenko diese Ängste nicht besonders elegant, aber emsig unterstützt. Er hat früher nie so hart und so oft von einer russischen Bedrohung wie in dieser (Wahl-) Kampagne gesprochen. Und schon die Festnahme der Männer des Unternehmens mit dem weltbekannten Markennamen „Wagner“ sollte die düstersten Befürchtungen des Westens bestätigen“.
Russisch-weißrussische Beziehungen ohne besondere Perspektive
Allem nach zu urteilen wird die Periode der Unbestimmtheit in den russisch-weißrussischen Beziehungen andauern. In dieser Hinsicht beginnt die Situation, an die russisch-ukrainischen Beziehungen bis zum Maidan von 2014 zu erinnern. Und Lukaschenko wird wohl kaum mit Gegenseitigkeit auf die Wünsche des russischen Präsidenten antworten. Dafür gibt es gewichtige Gründe.
Bereits am 29. Januar dieses Jahres veröffentlichte Konstantin Fedorenko, wissenschaftlicher Mitarbeiter des deutschen Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), seine Analyse der Beziehungen der Russischen Föderation und Weißrusslands. Der Autor konstatiert, dass für sie das Wichtigste der Vertrag über die Bildung des Unionsvertrages als eine Konföderation mit einer gemeinsamen Währung, einer abgestimmten Außenpolitik und Sicherheitspolitik, aber auch einem Unionsparlament und einer gemeinsamen Regierung gewesen sei. Wie der Autor weiter anmerkt, würden viele von den selbst schon erzielten Vereinbarungen hinsichtlich der Integration nur auf dem Papier existieren. Selbst eine wirtschaftliche Vereinigung, die als ein Grundpfeiler der Partnerschaft notwendig sei, sei auch lange Zeit nicht vorgenommen worden. Als Moskau (Gegen-) Sanktionen gegen die Europäische Union verhängte, habe sich Weißrussland nicht Russland angeschlossen und sogar geholfen, sie zu untergraben. Minsk nutze seinen Status eines „Brudervolkes“ und seine äußerlich positiven Beziehungen mit Russland für seine eigenen wirtschaftliche Vorteile aus. Die Spannung erreichte im März 2019 einen Höhepunkt, als Russlands Botschafter in Weißrussland, Michail Babitsch, erklärte, dass die wirtschaftlichen Forderungen von Minsk ohne eine engere politische Integration von Moskau als „überzogene“ betrachtet werden würden. Weißrusslands Außenministerium reagierte darauf mit einem kategorischen Statement, wonach Babitsch wohl „den souveränen Staat mit einem Subjekt der (Russischen) Föderation verwechselte“.
Weißrussland, resümiert der Autor, schicke sich nicht an, auf seine Unabhängigkeit zu verzichten. Mehr noch, betont Fedorenko, „ungeachtet der formellen militärischen Verbindung zwischen beiden Ländern sind ihre Verteidigungssysteme nur teilweise kompatibel. Lukaschenko hatte vorgeschlagen, Iskander-Komplexe oder gar S-300-Systeme als Antwort auf das Raketenabwehrsystem der NATO zu stationieren, wobei er es aber abgelehnt hatte, die russischen und weißrussischen Raketenabwehrsysteme zu integrieren. Doch vor dem Hintergrund der politischen und diplomatischen Krisen hat sich Russlands Druck zwecks Erweiterung der militärischen Zusammenarbeit verstärkt“.
Also unternimmt Alexander Lukaschenko alles Mögliche, um seine politische Unabhängigkeit von Wladimir Putin zu bewahren. Wie auch sein Amtskollege aus Kasachstan verhält sich Lukaschenko sehr misstrauisch zur Rhetorik Putins von einer „russischen Welt“ und dem Wunsche Moskaus, eine neosowjetische Sphäre ohne eine kommunistische Utopie wiederherzustellen. Und er hält sich an eine Politik der Riesen zwischen Moskau und Brüssel. Fedorenko ist der Auffassung, dass Lukaschenko weder die Fähigkeit, noch den Wunsch habe, den Weg der Östlichen Partnerschaft und eines Beitritts zur Europäischen Union zu gehen, da sein Land offenkundig nicht den erforderlichen politischen und demokratischen Kriterien entspreche. Es sei daran erinnert, dass die Östliche Partnerschaft ein Projekt der EU ist, das auf die Entwicklung von Integrationskontakten der Europäischen Union mit sechs Ländern der ehemaligen UdSSR – mit Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland, Georgien, Moldawien und der Ukraine – abzielt.
Probleme der Kontinuität der Herrschaft in Minsk
Fedorenko lenkt das Augenmerk auf die Meinung von Medien, wonach der weißrussische Präsident den Boden für eine Machtübergabe an seinen Sohn vorbereite. Daher werde wohl Alexander Lukaschenko kaum zu einer Entwicklung des Bündnisses von Russland und Weißrussland zwecks Verlängerung des Verbleibens von Wladimir Putin an der Macht bereit sein.
Es ergibt sich die Frage: Was für eine Alternative kann Russland zu dem hartnäckigen Unwillen Lukaschenkos, sich zu integrieren, bieten? Moskau ist wohl kaum in der Lage, mit wirtschaftlichen Methoden zu agieren. Der März-Konflikt von 2019 demonstrierte anschaulich, dass sich Russland nicht entschließen wird, sich auf eine Zuspitzung der Beziehungen einzulassen und die Abhängigkeit der Wirtschaft Weißrusslands vom russischen Erdgas und Erdöl als Druckmittel auszunutzen. Dies wird bisher von Russland als eine Drohung genutzt, und nicht mehr. Genau das Gleiche kann man auch hinsichtlich des Exports weißrussischer Waren, vor allem Lebensmittel nach Russland beobachten. Die Schaffung von Cordons sanitaires auf deren Weg nach Russland trägt einen sporadischen Charakter und erfüllt eher private Aufgaben, solche wie beispielsweise die Verhinderung eines illegalen Exports aus EU-Ländern von deren Waren, die unter die russischen (Gegen-) Sanktionen fallen. Als Beispiel kann man die polnischen Äpfel oder europäischen Meeresprodukte anführen.
Die Frage muss in der Perspektive betrachtet werden, besonders unter Berücksichtigung der Frage nach der Kontinuität in Weißrussland. Daher sollten die russischen Politiker Lehren aus den Ereignissen von 2014 in der Ukraine ziehen, da die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung der Situation in Weißrussland mit Vertiefung der Wirtschaftskrise im Land zunimmt. Russland wird wohl kaum bereit sein, das Regime Lukaschenkos zu sponsern, allein schon weil die Russische Föderation unter den Bedingungen des Kampfes gegen die Folgen der Coronavirus-Pandemie selbst nicht über die entsprechenden Ressourcen verfügt.
Die US-amerikanische New York Times betont, dass Lukaschenko selbst die Probleme der weißrussischen Wirtschaft nicht lösen könne. Vertreter der politischen und Wirtschaftselite würden das Land verlassen. Und „zwischen dem weißrussischen Präsidenten und seinem langjährigen Verbündeten und Schutzpatron Wladimir Putin ist es zu einer offenen Spaltung gekommen“. Im Zusammenhang damit lohne es sich nicht, darauf zu hoffen, dass die gewaltsame Unterdrückung der Proteste in Weißrussland und die negative und in einer Reihe von Fällen scharfe Reaktion des Westens automatisch Lukaschenko näher zu Russland rücken lasse. Lukaschenko zeige sich als ein nicht schlechter Taktiker (was die von ihm ausgespielte Karte mit der angenommenen russischen Einmischung am Vorabend des Abstimmungstages beweise). Doch strategisch habe er offenkundig verloren, indem er sowohl den Westen als auch Russland gegen sich eingestellt hätte. Moskau müsse sich auf den Anbruch einer Post-Lukaschenko-Ära vorbereiten und nach neuen Politikern, die die Führung des Landes übernehmen können, sowohl unter den derzeitigen Regierungsbeamten als auch unter der Opposition suchen.