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Warum war es kein Austausch, sondern eine Abschiebung?


Die Geschichte um den größten Austausch von Gefangenen in der Geschichte der Ost-West-Beziehungen hat sicher zwei wichtige Aspekte: einen menschenrechtlichen und einen außenpolitischen. „NG Deutschland“ versucht beide Aspekte zu analysieren.

Tatjana und Valerij Jaschin hatten am Samstag nur wenig Zeit für Telefonate. In einem von diesen mit der Redaktion „NG Deutschland“ gestand Tatjana ein: „Wir sind gerade beim Kofferpacken. Morgen fliegen wir schon nach Deutschland. Entschuldigen Sie bitte, die Zeit drängt“. Mit Sicherheit legten sie auch Kleidung für ihren Sohn Ilja in die Koffer, der seit Donnerstagabend in der Bundesrepublik ist und am Freitagabend zusammen mit Andrej Piwowarow und Wladimir Kara-Mursa auf einer Pressekonferenz in Bonn zum wohl spektakulärsten Gefangenaustausch zwischen Moskau und Westen seit dem Ende des Kalten Kriegs über Details berichtete. Liest man das Stenogramm dieser Pressekonferenz, kommen Fragen auf, auf die es bisher keine schlüssigen Antworten gibt.

Vorausgegangen waren Verhandlungen zwischen mehreren Ländern (Russland, Weißrussland, Deutschland, Slowenien, Norwegen und den USA), die unter strengster Geheimhaltung über mehrere Monate, wenn nicht gar einige Jahre erfolgten. Nach dem Tod von Alexej Nawalny am 16. Februar dieses Jahres bestand die Gefahr, dass die Gespräche über einen Gefangenenaustausch ins Stocken geraten. Schließlich hieß es, dass auch der bekannte russische Oppositionspolitiker ausgetauscht werden solle. Doch Bewegung kam mit einem Mal Ende Juni auf, als der Prozess gegen den Wall-Street-Journal-Reporter Evan Gershkovich begann und überraschend schnell endete. Mit einem Schuldspruch gegen den 31jährigen Amerikaner am 19. Juli in Jekaterinburg (16 Jahre strenge Lagerhaft wegen angeblicher Spionage). Nur wenig später verschwanden aus Straflagern und U-Haftanstalten prominente russische Gefangene. Alles deutete auf einen Austausch hin, obgleich bis zuletzt unklar blieb: Wann und wo findet die Aktion statt? Wer wird letztlich ausgetauscht? Alles erfolgte nun am vergangenen Donnerstag, wobei die türkische Seite dabei offensichtlich eine bedeutende Rolle gespielt hatte.

26 Männer und Frauen wurden zwischen Russland und dem Westen ausgetauscht, wobei 16 an die USA und Deutschland übergeben wurden (15 durch Russland und einer durch Weißrussland), acht Bürger Russlands trafen im Gegenzug in Moskau ein. Die Reaktionen auf den beispiellosen Gefangenenaustausch machen deutlich, mit welchen Problemen und Schwierigkeiten die Organisatoren konfrontiert wurden und was für Erwartungen aufgingen und welche nicht.

Am Freitag stellten sich ab 19:37 Uhr in Bonn bei einer Pressekonferenz drei russische Freigelassene den Fragen der Journalisten. Andrej Piwowarow (leitete bis zu seiner Verurteilung die Bewegung „Offenes Russland“, die von dem Ex-Oligarchen Michail Chorodkowskij gegründet wurde), Ilja Jaschin (einstiger Mitstreiter des in Moskau ermordeten Oppositionspolitiker Boris Nemzow) und Wladimir Kara-Mursa (wegen Landesverrat verurteilter Journalist und Historiker, der neben der russischen Staatsbürgerschaft auch die britische besitzt). Den dreien an den Mikrophonen – wie im Übrigen auch dem 19jährigen Deutschrussen Kevin Lick, der im Saal zugegen war und vier Jahre Lagerhaft wegen angeblicher Spionage für deutsche Geheimdienste in einem Straflager in Nordrussland verbüßen sollte – waren Erleichterung und Freude anzusehen, aber auch Besorgnis. Schließlich sind die nach Deutschland gekommenen freigelassenen politischen Gefangenen lediglich die Spitze eines gewaltigen Eisberges. Das Menschenrechtsinformationsportal OVD.INFO kommentierte am Tag des Gefangenenaustauschs, dass es in Russland mindestens noch etwa 1000 politische Gefangene gebe, die entweder schon Strafen absitzen müssen oder auf ihre Urteile warten. Die mit dem Friedensnobelpreis gewürdigte Organisation „Memorial“, deren Vertreter Oleg Orlow ebenfalls per Putin-Erlass begnadigt und freigelassen wurde (er war wegen angeblicher Fakes und Diskreditierung der russischen Armee im Ukraine-Konflikt zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt worden), nannte eine geringere Zahl, wobei sie betonte, dass sie den Status eines politischen Gefangenen nicht im Schnellverfahren verleihen würde. Dennoch müssten aber die Anstrengungen fortgesetzt werden, dass alle politischen Gefangenen im Russland von Wladimir Putin auf freien Fuß kommen.

Im Verlauf der Bonner Pressekonferenz wurde für viele sicher unerwartet daran erinnert, dass es gerade Deutschland gewesen war, auf dessen Initiative hin Alexander Solschenizyn, Anatolij Scharanskij und Michail Chodorkowskij durch Moskau freigelassen wurden. Interessant wurde es dann aber hinsichtlich der Details. Diese machten erneut deutlich, dass es Russland mit seiner Verfassung und seinen Gesetzen nicht sehr ernst nimmt. Laut Artikel 61 des russischen Grundgesetzes ist eine Ausweisung oder Deportation bzw. Übergabe eines russischen Staatsbürgers an einen anderen Staat nicht rechtens. Und Wladimir Kara-Mursa als auch Ilja Jaschin hatten es grundsätzlich abgelehnt, um eine Begnadigung zu bitten. „Nach unserer Zustimmung zu einem Austausch hatte keiner gefragt“, unterstrich ersterer. Der 41jährige Jaschin ergänzte: „Das, was mit mir geschehen ist, betrachte ich nicht als einen Austausch, sondern als eine widerrechtliche Abschiebung aus Russland gegen meinen Willen. Mehr noch, ich möchte nach Hause zurückkehren“. In diesem Zusammenhang berichtete der Moskauer während der Pressekonferenz am Freitag noch über einen anderen Begleitumstand der Freilassung, der die Geisteshaltung der Offiziellen Russlands gegenüber den freigelassenen russischen politischen Gefangenen illustriert. Überdies gibt es im russischen Strafgesetzbuch keine Paragrafen, die eine politische Tätigkeit unter Strafe stellt.

Nach Jaschins Worten habe der ihn bewachende und begleitende Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB (evtl. war es auch nur ein Polizeibeamter) – so Jaschin — erklärt: „Du kannst natürlich wie Nawalny nach Russland zurückkehren, du wirst wie Nawalny festgenommen und wirst wie Nawalny deine Tage beenden“. „Man hatte mir klar zu verstehen gegeben, dass meine Rückkehr jegliche Austausche von politischen Gefangenen in der überschaubaren Perspektive ausschließt und die Positionen der Gegner eines Austauschs radikal verstärken wird.“ (https://storage.googleapis.com/istories/news/2024/08/02/v-bonne-zavershilas-press-konferentsiya-ili-yashina-andreya-pivovarova-i-vladimira-kara-murzi/index.html)

Mit wenigen oder gar keinen offiziellen Dokumenten hatte Moskau die insgesamt 16 russischen und amerikanischen Bürger an den Westen übergeben. Vor diesem Hintergrund verdient das Vorgehen der deutschen Seite Anerkennung, die anstelle von Bürokratie politischen Willen demonstrierte. Ilja Jaschin, der gänzlich ohne ein gültiges Dokument nach Deutschland kam, wurde per Internet bei der Einreise identifiziert. Nach seinen Worten hätten im Flughafen Köln-Bonn die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes gesagt, dass „die Situation eine außerordentliche ist und man sich etwas überlegen wird“. Dabei hatten sie aber versichert, dass man sie ganz bestimmt nicht deportieren werde.

Im russischen Internet waren unterschiedliche Meinungen zum Gefangenenaustausch vom Donnerstag zu finden. Nach Beobachtungen und Recherchen der Redaktion „NG Deutschland“ hielten sich die Reaktionen die Waage, obgleich viele negative Reaktionen belegen: Die russische staatliche Propaganda verpufft nicht. Die freigelassenen Russen seien mehrheitlich Feinde und Verräter Russlands. Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew schrieb beispielsweise auf Telegram: „Man hätte es natürlich gern, dass die Verräter Russlands hinter Gittern verrotten oder im Gefängnis verrecken, wie dies auch nicht selten geschehen ist. Nützlicher ist es aber, unsere, die für das Land, für das Vaterland, für uns alle arbeiten, freizubekommen“. Der Post des stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates war mit Stand vom Sonntag fast eine Million Mal angeklickt worden. Daher überraschte es auch nicht, wie der Empfang der acht Bürger Russlands, die vom Westen an Moskau übergeben wurden, im hauptstädtischen Flughafen Vnukovo erfolgte. Präsident Wladimir Putin war höchstpersönlich auf dem Rollfeld erschienen, ein roter Teppich war ausgerollt worden, und eine Ehrenkompanie des Kreml-Regiments hatte man antreten lassen. Schließlich seien Helden in die Heimat zurückgekehrt.

Als erster kam Wadim Krassikow die Gangway herunter und wurde vom Kremlchef wie ein alter Bekannter begrüßt und umarmt. Der Tiergartenmörder war laut einigen russischen Presseberichten die Hauptperson des spektakulären Gefangenenaustauschs für Moskau, die ins Land zurückgeholt werden sollte. Ihm folgten die weiteren sieben Freigelassenen, unter denen das Ehepaar Anna Dulzewa und Artjom Dulzew besonders auffiel, da die beiden mit ihren zwei Kindern in die Heimat zurückgekehrt waren. Das deutsche Blatt „Die Welt“ merkte an, dass politische Häftlinge gegen Kriminelle ausgetauscht worden seien. Der von Moskau freigepresste Roman Selesnjow war beispielsweise in den USA wegen Cyber-Kriminalität und Datenklau mit einem angerichteten Schaden von etwa 170 Millionen Dollar zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wladislaw Kljuschin hatte neun Jahre Freiheitsentzug wegen Hacker-Angriffen und Datenklau sowie Betrugshandlungen unter Verwendung von Insider-Informationen in den USA im vergangenen Jahr bekommen. Ja, und die Dulzews hatten vor einem Gericht in Slowenien Spionage-Handlungen eingestanden, wofür sie eine Haftstrafe von einem Jahr und sieben Monaten erhielten.

Größte Bauchschmerzen hatte aber mit Sicherheit die deutsche Bundesregierung. Nachdem sie sich lange gegen eine Freilassung von Krassikow, der für seine Mordtat zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, ausgesprochen hatte, ließ sie sich nun auf die Entscheidung ein, den FSB-Mann nicht zu begnadigen, sondern an Russland zur weiteren Verbüßung der Haftstrafe zu übergeben. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bezeichnete die Übergabe von Krassikow als ein „hochsensibles Dilemma“. Niemand in der Bundesregierung hätte sich die Entscheidung einfach gemacht. Wie Kanzler Scholz in der Nacht zum Freitag erklärte, sei die Gefangenenübergabe „frühzeitig“ mit Oppositionsführer und CDU-Chef Friedrich Merz abgesprochen worden. „Er hat mir ausdrücklich versichert, dass er mit den Entscheidungen der Bundesregierung einverstanden ist“, sagte Scholz. „Niemand hat sich diese Entscheidung einfach gemacht, einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Mörder nur nach wenigen Jahren der Haft abzuschieben.“ Freilich ist man sich in Berlin darüber im Klaren, dass Krassikow demnächst im Kreml mit einer staatlichen Auszeichnung gewürdigt und wohl weiterhin für den russischen Inlandsgeheimdienst tätig sein wird. Putin hatte bekanntlich im Februar gegenüber dem US-amerikanischen Tucker Carlson erklärt, dass der inzwischen fast 59jährige Tiergarten-Mörder aus „patriotischen Erwägungen“ seine Tat begangen habe und damit nicht zu verurteilen sei. Putin erklärte seinem Interviewer, dass Krassikow nicht irgendwen erschossen hatte, sondern Selimchan Changoschwili (den Putin nicht konkret beim Namen genannt hatte), einen tschetschenisch-georgischen Kommandeur tschetschenischer Milizen, der selbst für den Tod zahlreicher Menschen während des Tschetschenien-Konflikts verantwortlich gewesen war.

Die Geschichte der Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen kennt viele andere Beispiele von Gefangenenaustauschen. Der nunmehrige besitzt mit Sicherheit jedoch eine besondere Bedeutung, denn er demonstriert: Trotz der extremen Eiszeit in den Beziehungen vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges gibt es nach wie vor Kontakte für einen Dialog, wenn auch nur zu wenigen Themen. Aber nun zu erwarten, dass ein Tauwetter einsetzt, ist deplatziert. Russische Politologen kommentierte mehrheitlich gerade so den stattgefundenen Austausch. Nutznießer sind für kurze Zeit sicher die Vertreter der Demokratischen Partei, deren Vertreterin Kamala Harris im Wahlkampf diesen Austausch für die Biden-Administration, in der sie bekanntlich das Amt des Vizepräsidenten bekleidet, verbuchen wird. Es ist aber wohl sicher, dass es ohne den Druck der US-Administration auf die Verbündete in Europa zu keinem Austausch gekommen wäre. Und die Formel des Austausches haben möglicherweise auch die Amerikaner – zumindest was einige Namen der von Russland freigelassenen Personen anbelangt — diktiert. Obgleich man die Rolle Deutschlands in dieser Frage nicht unterschätzen darf. Für beide – sowohl für Washington als auch für Berlin – bedeutet dies, dass die freigelassenen Dissidenten wichtig für sie waren und sind. Wie lange noch ist jedoch eine andere Frage.

Ob aber eine Lösung des gegenwärtigen Ukraine-Konflikts einen Impuls erhalten wird, ist laut russischen Politologen wenig wahrscheinlich (wie die Moskauer Presse am Freitag deutlich machte). Und in Moskau sieht man eher die innenpolitische Wirkung. Schließlich wurde das Motiv aus der sogenannten militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine „wir lassen unsere Leute nicht im Stich“ nicht nur bestätigt, bekräftigt und untermauert, sondern auch erweitert. Offen bleibt gleichfalls, ob der Westen die aus dem Kreml signalisierte Bereitschaft zu Gesprächen über andere Themen wahrnimmt und nutzt.