Der Patriarch Moskaus und Ganz Russlands Kirill gratulierte Alexander Lukaschenko zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen, die am 9. August in Weißrussland zu Ende gegangen waren. Dabei erklärte ein Teil der Geistlichen der Weißrussischen orthodoxen Kirche (WOK), dass die Wahlen gefälscht worden seien, und bezeichnete sie als eine „Erniedrigung der Menschenwürde“. Im Zusammenhang mit den Meinungsverschiedenheiten in der Russischen orthodoxen Kirche (ROK) bekundeten Vertreter der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) die Überzeugung, dass in der Republik bald eine neue, vom Moskauer Patriarchat unabhängige Kirchenstruktur entstehen werde.
„Sie schenken beständig den Fragen des geistig-moralischen Zustands der Menschen Aufmerksamkeit, was unter anderem das fruchtbare Zusammenwirken der staatlichen Machtorgane mit dem Weißrussischen Exarchat belegt“, heißt es in der Gratulationsbotschaft von Patriarch Kirill. Das Oberhaupt des Moskauer Patriarchats bekundete gleichfalls die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Zusammenarbeit, „die dazu berufen ist, die Konsolidierung des Volkes, die Realisierung sozial bedeutsamer Projekte und Initiativen, die Aufklärung und patriotische Erziehung der jungen Generation sowie die Festigung der unvergänglichen Ideale der Barmherzigkeit, des Friedens, der Güte und Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu fördern“.
„Heute wird jegliche Erklärung seitens der ROK nur durch das Prisma der Zuspitzung der politischen Situation in Weißrussland betrachtet. Viele beeilten sich zu erklären, dass die Gratulation von Patriarch Kirill zur Wiederwahl von Alexander Lukaschenko für eine neue Amtszeit ein Fehlstart sei und man dies nicht so schnell hätte tun sollen, umso mehr mit einer Lobpreisung der moralischen Qualitäten Lukaschenkos. Da aber die Zentrale Wahlkommission Weißrusslands die Abstimmungsergebnisse bereits bekanntgegeben hat, ist der Patriarch entsprechend seines Amtes verpflichtet, den Präsidenten jenes Landes zu gratulieren, wo sich solch ein wesentlicher Teil der Russischen orthodoxen Kirche wie das Weißrussische Exarchat befindet“, merkte in einem Gespräch mit der „NG“ Roman Lunkin, Leiter des Zentrums zur Erforschung von Religion und Gesellschaft des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, an. Jedoch „hätte man vom Patriarchen mehr Worte erwarten können, die ein Zeichen der Achtung gegenüber der weißrussischen Gesellschaft gewesen wären“, fügte der Experte hinzu.
Die offiziellen Kirchenstrukturen der Republik an sich beeilen sich bisher nicht mit Gratulationen. Und bereits am 8. August schlossen sich über 30 orthodoxe Geistliche aus verschiedenen Städten Weißrusslands einem Flashmob gegen Fälschungen während der Wahlen an. Zu seinem Initiator wurde der Diakon Dmitrij Pawljukewitsch aus Grodno, der auf seiner Facebook-Seite ein Plakat gepostet hatte, auf dem mittels Bibel-Zitaten erklärt wurde, warum die orthodoxen Christen gegen Fälschungen bei den Wahlen des Landespräsidenten auftreten sollten. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass bereits Mitte Juli Einwohner aus Minsk und Gomel die Aktion „Ein Katholik fälscht nicht“ gestartet hatten.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Protestaktionen sah sich die Weißrussische orthodoxe Kirche am Donnerstag gezwungen, sich mit einem Appell an ihre Gemeindemitglieder und die Mitbürger zu wenden. „Bewahre Sie sich und Ihre Nächsten, lassen Sie sich nicht auf Provokationen ein und handeln Sie im Rahmen des Gesetzes der christlichen Liebe und der Gesetzgebung der Republik Weißrussland“, heißt es in einer Erklärung des Pressedienstes der WOK. Beobachter weisen darauf hin, dass diese Worte eine Reaktion auf die im Internet kursierenden Aufrufe, an einer sogenannten „Prozession“ von Vertretern unterschiedlicher christlicher Konfessionen mit Bibeln und Ikonen neben der Heilig-Geist-Kathedrale teilzunehmen, seien. Freilich dementiert man in der WOK eine Verbindung mit diesen Aufrufen. „Unser Volk braucht besonders eine Unterstützung durch das Gebet in der heutigen Krisenzeit. Unsere orthodoxen Kirchen sind für alle offen, die nicht nur während der vorgesehenen Gottesdienste kommen und beten wollen, sondern auch entsprechend dem Ruf des Herzens zu jeder beliebigen Zeit“, wird in der Donnerstag-Erklärung unterstrichen. Zur gleichen Zeit bestehe die Position der Kirche darin, „die sich gegenüberstehenden Seiten zu Frieden, Nachsicht und gegenseitigem Einvernehmen aufzurufen und nicht die Situation aufzuheizen und zu unterschiedlichen Aktionen anzustiften“.
Gleich nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse und des Beginns der Protestaktionen im Land sind die Vertreter der Orthodoxen Kirche der Ukraine spürbar aktiv geworden. Sie sind sich gewiss, dass sich Weißrussland auf dem Wege der Schaffung seiner autokephalen Kirche bewege, die unabhängig von der ROK und Moskau ist, und erinnerten an die ukrainischen Ereignisse von 2014. „Die orthodoxe Kirche von Weißrussland ist bereits eine Realität, wenn auch noch keine verstandene und keine organisierte“, schrieb beispielsweise auf seiner Facebook-Seite der einstige Kleriker der Ukrainischen orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und nunmehrige Geistliche der OKU, Georgij Kowalenko. Sein Kollege, der Geistliche Alexander Dedjuchin, hat ganz und gar die Glaubensgenossen aufgerufen, nicht nur für die „weißrussischen Brüder“ zu beten, sondern auch nach Minsk zu fahren und die Proteste zu unterstützen, damit „das Gebet ein heißes ist“.
„In Bezug auf ein zur ROK alternatives orthodoxes Christentum in Weißrussland ist es völlig natürlich, dass dieses Thema aufgekommen ist, sobald die Herrschenden in Minsk ins Schwanken gerieten“, fährt Roman Lunkin fort. „Noch als die OKU gebildet wurde, hatte sich bereits damals die Frage nach der Bildung einer zur OKU analogen Struktur auf dem Territorium Weißrusslands ergeben. Mehr noch, solch eine Jurisdiktion gibt es schon in der Republik, doch sie besteht aus einigen Gläubigen und einem Geistlichen. Das heißt, dies ist ein mikroskopisches Gebilde. Daher gibt es bisher keinen Boden für eine große Spaltung und eine Konfrontation innerhalb der Orthodoxie in Weißrussland“, unterstrich der Religionswissenschaftler.
Es sei jedoch an der Stelle daran erinnert, dass zur Kiewer Metropolie, deren Übergabe in die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats durch den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Bartholomäus I. Ende 2018 annulliert worden war und was auch zum Anlass für die Bildung der OKU wurde, einst auch heutige weißrussische Gebiete gehört hatten.